Brigitte Reimann und ihre ideologischen Debatten: Der Aufbau-Verlag bringt erstmals ungeschönt „Die Geschwister“ heraus. Eine Schwester versucht ihren Bruder von der DDR-Flucht abzuhalten.
Ein Hoch auf die Menschen außerhalb der Bücherblase, die trotzdem lesen! Wäre der Mitarbeiterin einer Sanierungsfirma, die im sächsischen Hoyerswerda (auch bekannt als: Hoywoy!) ein abbruchreifes Haus entrümpelte, der Name Brigitte Reimann nicht bekannt gewesen, wären die Notizen und Briefe der 1973 verstorbenen Autorin wahrscheinlich ebenso im Papiermüll gelandet wie das ursprüngliche Manuskript ihrer Erzählung „Die Geschwister“. Doch sie ahnte, dass sie da in der Abstellkammer unter der Treppe von Reimanns ehemaligem Wohnhaus auf etwas Wertvolles gestoßen war.
Mäuse hatten die Seiten zerfressen, es war kein schöner Anblick. Das dürfte allerdings kaum der Grund gewesen sein, dass der Verlag schon 1962 nicht sonderlich glücklich damit war. Zu offen sprach Reimann die Missstände in der DDR an, die frustrierende Starre der Strukturen, die ein künstlerisch-kreatives Arbeiten – in diesem Fall der Malerin Elisabeth, die als Erzählerin und Protagonistin fungiert – erschweren. Änderungsvorschläge beinhalteten das Streichen einer Szene, in der Elisabeth Besuch von einem jungen Stasi-Ermittler bekommt, außerdem wurde alles abgemildert, was ansatzweise an Sex denken ließ. Sinn und Unsinnlichkeit.
Dabei – und das öffnet aus heutiger Sicht ein interessantes Spannungsfeld – steht die Erzählerin grundsätzlich hinter der Ideologie der DDR, verteidigt sie sogar gegen ihre Brüder. „Die Geschwister“, das sind Elisabeth, Konrad und Ulrich. Beide haben Schiffbau studiert, aber der Älteste, Konrad, ist nach dem Studium sofort in den Westen gegangen. Bei einem Familientreffen in Berlin kommt es deshalb zu ideologischen Auseinandersetzungen, letztlich zum Zerwürfnis. Uli blieb im Osten, bekam aber – vermeintlich, weil man ihn mit einem später republikflüchtigen Professor assoziierte – keine Stelle.
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