Was ein Aufwand! Sir Tom Stoppards großes Geschichtsdrama strotz vor Rollen und historischen Verwicklungen. Wahrhaft vorpandemisches Theater über das Schicksal einer jüdischen Großfamilie, für die deutschsprachige Erstaufführung übersetzt von Daniel Kehlmann. Janusz Kica macht daraus eine Inszenierung passgenau für die Josefstadt.
29. April 2022. Ein Freudscher verriet es. Irgendwer tweetete im Januar 2020 etwas über die Uraufführung von Sir Tom Stoppards "Josefstadt" am Londoner West End und verwechselte dabei Wiens achten mit seinem zweiten Gemeindebezirk. In der Leopoldstadt leben traditionell immer noch viele Jüdinnen und Juden, hier siedelte der weltberühmte Autor ("Rosenkranz und Güldenstern", "Shakespeare in Love") sein neues Stück an.
Eine pandemieuntaugliche Sause
In der Josefstadt treffen dem Klischee nach Bobos auf Hofratswitwen, und hier leitet Herbert Föttinger seit 2006 das nach dem Bezirk benannte Privattheater. Als dann durchsickerte, der Direktor sei nach London gereist, um sich die Inszenierung anzusehen, war niemand überrascht: Ein klassisch englisches Geschichtsdrama, das noch dazu in Wien spielt – nach jeder Theaterlogik musste sich Föttinger die Rechte für die deutschsprachige Erstaufführung von "Leopoldstadt" sichern und Daniel Kehlmann mit der Übersetzung beauftragen. Zwei Jahre später hatte die eher pandemieuntaugliche Sause in dem besonders Corona-geplagten Theater tatsächlich Premiere.
Komplizierte Verhältnisse
In "Leopoldstadt" schildert der heute 84-jährige Stoppard das Schicksal einer Großfamilie über vier Generationen mit Szenen in den Jahren 1899/1900, 1924, 1938 und 1955. Die Älteste, Emilia Merz, ging einst, wie ihre Tochter später sagt, "zu Fuß nach Lwiw, den ganzen Weg, fast von Kiew", nachdem ihr Dorf im Zuge eines Pogroms niederbrannte. In Wien brachten ihre Kinder es zu Wohlstand, der Sohn heiratete eine Christin und ließ sich taufen. Zu Beginn gibt es eine Weihnachtsfeier mit unzähligen Personen, die alle gleichzeitig reden und zwar natürlich nicht darüber, wer mit wem verwandt oder verschwägert ist. Die Verhältnisse sind derart kompliziert, dass sogar der von Direktor Föttinger selbst gespielte Hermann Merz ganz stolz ist, wenn er sie auf die Reihe kriegt. Dann nimmt die Historie ihren üblen Lauf – und wenn am Ende der Stammbaum Name für Name durchgegangen wird, dient das auch dem Publikum als Probe, ob es binnen drei Stunden den Überblick erlangt hat. Es wird jeweils der Sterbeort dazu gesagt. Bei den meisten: Auschwitz.