Wiener-Festwochen-Liebling Phia Ménard war einmal Jongleur. Jetzt ist sie eine visionäre Performancekünstlerin
Sie war der Überraschungshit der Wiener Festwochen 2019. Man kannte Phia Ménard nicht und wusste mit dem Titel „Trilogie der unmoralischen Geschichten (für Europa): Mutterhaus“ wenig anzufangen. Wer dennoch hinging, erlebte schlichte Größe: Ein finster schauendes Wesen, nicht unähnlich dem Rockmusiker Alice Cooper, bastelte ein Haus aus Pappkarton. Das Wesen war Phia Ménard selbst, sie nennt das Produkt ein „Do-it-yourself-Parthenon von Ikea“.
Das Unterfangen ist schwieriger, als es klingt, die Stanzvorlage bedeckte den gesamten Bühnenboden. Wenn etwas schiefging, schrie das Publikum kollektiv auf. Es verfolgte den Abend gebannter als jedes Drama mit komplexem Plot. „Einmal sind drei Frauen auf die Bühne gekommen, um mir zu helfen“, berichtet Phia Ménard dem Falter. „Das war ein kathartischer Moment.“ Inzwischen hat die 50-jährige Französin ihre Trilogie zu Ende entwickelt. Der Abend ist nun pausenlose drei Stunden lang, von existenzieller Wucht und voller Überraschungen. Beim Festival d’Avignon feierte er diesen Juli Premiere. Am 24. August eröffnen die Festwochen damit ihr Spätsommerprogramm.
Die blinde Härte der Performerin aus Teil eins ist kaum mit Phia Ménards gelöstem Lächeln nach der letzten Vorstellung in Avignon zu vereinen. Sie empfängt in ihrer Garderobe in dem mönchskuttenartigen Bademantel, den sie, nach einem Nacktauftritt im kurzen dritten Teil „Verbotene Begegnung“, bereits zum Applaus trug. „Im wahren Leben lache ich gerne“, sagt sie. Diese neueste Arbeit ihrer Kompanie Non Nova, von Pandemiebedingungen und dem Selbstmord eines Mitglieds geprägt, fällt ziemlich düster aus.
Obwohl Phia Ménard schon seit 13 Jahren als Regisseurin und Performancekünstlerin reüssiert, gilt sie in vielen biografischen Abrissen noch hauptsächlich als Jongleurin. „Im Geiste jongliere ich immer noch“, schmunzelt sie wohlwollend. „Die Jonglage war mein Einstieg in die Kunst.“ Als Bub namens Philippe in eine Arbeiterfamilie geboren – der Vater arbeitete im Schiffbau –, sah Ménard erst während des Maschinenbaustudiums Tanz- und Zirkusvorstellungen in einem Theater in der Nachbarschaft. Nach dem Abschluss ging Philippe beim Meisterjongleur Jérôme Thomas in die Lehre. Im zarten Alter von 23 begleitete er den Meister auf eine Welttournee, sein erster Auftritt vor Publikum war in Pakistan.
Mitte 30 war er am Höhepunkt seiner Karriere als französischer Zirkusartist. „Ich war virtuos, ich wurde gefeiert“, erinnert sich Ménard, „Das hat mich sehr deprimiert, denn ich war ein Mann.“ Für die persönliche Identitätskrise war der Ruhm wie ein Brennglas. „Also habe ich meine Identität geändert – und meine Praxis.“ Seither macht Ménard eine Mischung aus Zirkus, Performance und Theater, stets mit feministischem Anspruch. Die Arbeit „P.P.P.“ 2008 war ihr Coming-out als Phia, eine Beschäftigung mit dem Material Eis. „My balls became ice cubes“, strahlt sie, und es ist nicht klar, ob sie mit „balls“ ausschließlich die Jonglierbälle meint.
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