Festwochen-Intendant Christophe Slagmuylder hat sich an einem Experiment versucht. Er spannte die kapverdische Choreografin Marlene Monteiro Freitas mit der schwedischen Sängerin Sofia Jernberg und dem Klangforum Wien zu dem Arnold-Schönberg-Abend „Pierrot lunaire“ zusammen. Sie kannten einander vorher nicht. Der Falter hat die beiden Künstlerinnen getrennt voneinander befragt.
Falter: Frau Freitas, wer ist Pierrot lunaire?
Marlene Monteiro Freitas: Eine sehr menschliche Figur. Sie betritt eine Dunkelwelt, wie wir sie alle kennen: Schuld, Sehnsucht, Intimität. Ihre kindliche Grausamkeit dient ihr als schöpferische Kraft.
Ist es das erste Mal, dass Sie von einem klassischen Musikstück ausgehen?
Freitas: In diesem Format ja. Von literarischen Werken bin ich aber schon ausgegangen. Mein Arbeitsprozess ist also ähnlich. Anders ist höchstens, dass ich ohne Tanzensemble auf der Bühne arbeite, nur mit Musikerinnen und Musikern. Musik gibt einen ganz anderen zeitlichen Rahmen vor. Wir müssen viel schneller arbeiten.
Was machen Sie denn als Choreografin ohne Tänzer?
Freitas: Ich choreografiere alle anderen, die Sängerin und das Orchester. Bei der Uraufführung von „Pierrot lunaire“ war nur die Sängerin auf der Bühne, die Musiker waren gar nicht zu sehen, wie Gespenster. Für mich war von Anfang an klar, dass alle auf der Bühne ein Pierrot sind, einschließlich der Sängerin und des Dirigenten.
Was finden Sie spannend an „Pierrot lunaire“ von Arnold Schönberg?
Freitas: Die Musik hat sich mir erst erschlossen, als ich die Gedichte von Giraud gelesen habe, auf denen sie beruht: Es ist sehr aufschlussreich, wie Schönberg die 21 Gedichte ausgewählt und angeordnet hat, die Pausen zwischen den Liedern. Schon beim Schreiben des Gesangs ist er in die Absichten und Empfindungen der Lyrik vorgedrungen. Er war praktisch schon mein Dramaturg! Schönberg hatte Giraud – in Übersetzung natürlich –, wir haben Schönberg und Giraud.
In welcher Sprache haben Sie die Gedichte gelesen?
Freitas: Französisch, Englisch, Portugiesisch. Dargeboten werden sie allerdings auf Deutsch, einer Sprache, die ich nicht beherrsche. Aber ich kann ja auch keine Noten lesen. Herausforderungen auf allen Ebenen!
Wie klingt Deutsch für Sie?
Freitas: Wie Percussion. Schönberg wollte, dass der Gesang ein gleichberechtigtes weiteres Instrument im Ensemble ist. So wie er ihn geschrieben hat, wie geatmet wird, das gibt schon die körperliche Betätigung vor. Es ist eine Intention, eine Emotion. Normalerweise ist da ein Wort und man muss sich bemühen, seinen Sinn zu verstehen. Aber wie er die Wörter angeordnet hat, ist der Sinn schon da.
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