Die ungarischen Medien hetzen gegen die Schriftstellerin Krisztina Tóth. Ein Gespräch über Literatur in einer unfreien Gesellschaft
Als der Falter anruft, hat Krisztina Tóth gerade den Heimunterricht abgeschlossen. Die Tochter der ungarischen Autorin ist wegen Corona im Distance-Learning an der Schule einer jüdischen Stiftung in Budapest, wo sie erst kürzlich eingeschrieben wurde. Die Atmosphäre werde in diesem nicht staatlichen Umfeld besser sein, hoffen die Eltern. Notwendig wurde der Schulwechsel, nachdem das Mädchen im Zuge einer unvergleichlichen Hetzkampagne gegen ihre Mutter Angriffen ausgesetzt war.
Die Vorgeschichte: Der Online-Literaturblog Könyves Magazin hatte dieselben elf Fragen an diverse ungarische Autorinnen und Autorin geschickt. Eine Frage lautete: „Wenn es nach Ihnen ginge, welche Bücher würden Sie aus dem Lehrplan entfernen?“ Tóth nannte einige Klassiker, begründete ihre Wahl und schlug Werke zeitgenössischer Autorinnen vor, die ihr für die Schullektüre geeigneter erschienen. Eine gute Woche nach dem Erscheinen des Interviews wurden regierungsnahe rechte Medien auf ihre Antwort aufmerksam. Es begann eine Spott- und Rufmordkampagne in den rechten Medien mit deutlich sexistischem Charakter. Seitdem erhält Tóth unzählige Hassbotschaften und wird körperlich bedroht.
Falter: Frau Tóth, was genau haben Sie in dem Interview mit Könyves Magazin kritisiert?
Krisztina Tóth: Dass bei der verpflichtenden Schullektüre kaum Autorinnen und kaum starke, unabhängige Frauenfiguren vorkommen. Kinder und Jugendliche übernehmen diese Weltsicht unreflektiert. Eine kleine Schülerin abstrahiert beim Lesen nicht, sondern versucht, sich mit den Figuren zu identifizieren.
Wird das in den Schulen selbst auch so gesehen?
Tóth: Die Lehrpersonen stehen unglaublich unter Druck. In privaten Briefen schreiben sie mir, dass sie den Lehrplan auch sehr problematisch finden, dass sie sich aber nicht trauen, sich öffentlich zu äußern.
Sie wollen also die Werke des ungarischen Nationaldichters Mór Jókai gar nicht verbieten?
Tóth: Ich bin ja gar nicht in der Position, irgendwas am Lehrplan zu verändern, ich habe einfach die hypothetische Frage eines Literaturblogs beantwortet, ein Gedankenexperiment im Stile von „Welche Bücher würden Sie auf eine einsame Insel mitnehmen?“ Die rechte Presse hat das völlig verzerrt vermittelt und war zwei Wochen lang voll mit – hauptsächlich unvorteilhaften – Fotos von mir, im Fernsehen wurden sexistische Witze über mich gerissen.
Hatten Sie denn die Möglichkeit, sich zu erklären?
Tóth: Nur das Klubrádió hat mich dazu befragt. Dazu muss ich sagen, dass das eines der letzten unabhängigen Medien in Ungarn ist, dem noch dazu die Frequenz entzogen wurde, sodass es nur noch im Internet gehört werden kann. Dort konnte ich zweimal erklären, dass das eine künstlich kreierte Kampagne ist. Die rechten Medien interessieren sich nicht für meine Stimme. Die Leute, die dort über mich sprechen, haben kein einziges Werk von mir gelesen. Letztes Wochenende wurde ich in einer Fernsehsendung mit einer rechten Politikerin namens Dóra Dúra verglichen, die zuvor ein Märchenbuch mit LGBTQ-Inhalten öffentlich durch den Reißwolf gejagt hat. Es hieß, ich sei deren linke Entsprechung. Können Sie sich das vorstellen? Sie nimmt eine nazimäßige Büchervernichtung vor, und ich soll das Gleiche in liberal sein, ein talentloser Niemand, der kein Recht hat, sich zu literarischen Angelegenheiten zu äußern.
Seit Sie Thema in den rechten Medien sind, bekommen Sie täglich Hunderte Hassbotschaften. Wie gehen Sie damit um?
Tóth: Anfangs wollte meine Administratorin die hetzerischen Facebook-Nachrichten noch melden, aber sie hatte einfach keine Zeit mehr, weil sie damit beschäftigt war, laufend neue Nachrichten zu löschen. Hinter den meisten Meldungen stecken Fake-Profile.
Wieso denken Sie, dass es sich um eine gezielte Hasskampagne handelt?
Tóth:Weil das Drehbuch sehr dem Fall Péter Krekó ähnelt. Das ist ein Forscher, der zwei Monate zuvor mit genau der gleichen Methode medial angegriffen wurde: Aus einer Aussage wurde ein Zitat herausgegriffen und in einen völlig falschen Zusammenhang gesetzt. Die Hasskampagne gegen ihn in Fernsehen und Radio hatte zur Folge, dass er und seine Familie Todesdrohungen bekamen. Vor den Wahlen 2022 sollen kritische Menschen, die auch im Ausland bekannt sind, diskreditiert und lächerlich gemacht werden.
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