Der Schweizer Theatermacher Boris Nikitin beschäftigt sich auf der Bühne mit dem Dokumentarischen. Bei den Wiener Festwochen zeigt er zwei Arbeiten über den Tod
Boris Nikitin hat einen speziellen Humor. Titel bekannter Arbeiten des Regisseurs lauten „Woyzeck“, „Hamlet“ oder „Bartleby“. Diese Abende stellen aber nicht die großen Erzählungen der Literatur auf die Bühne, sondern Themen der Realität. Der 41-Jährige nennt sein Genre selbst das Dokumentarische – eine viel zeitgemäßere Form von Theater. Warum nicht dem Nicht-Fiktionalen mit diesen kleinen Etikettenschwindeln einen Platz im Kanon erschleichen?
Ganz willkürlich sind die Titel freilich nicht gewählt. Bei Tschechow wird etwa bekanntermaßen viel geplaudert. In Nikitins bisher letzter Produktion in Österreich 2013 sitzen Ensemblemitglieder des Schauspielhauses Graz bei Tisch und geben vermeintlich private Geschichten preis. Das Stück hätte ursprünglich als „Der Kirschgarten“ firmieren sollen, doch damit setzte sich Nikitin nicht durch. Es hieß dann „Sei nicht Du selbst“ und wurde hoch gelobt.
Sieben Jahre später ist Nikitin zurück in Österreich. Bei den auf den Spätsommer verschobenen Wiener Festwochen zeigt er gleich zwei Gastspiele – mit relativ aussagekräftigen Titeln. In „Versuch über das Sterben“ sitzt der Regisseur selbst auf der Bühne und stellt sein eigenes Coming-out als schwuler Mann der Ankündigung seines an amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankten Vaters gegenüber, assistierten Suizid in Erwägung zu ziehen. „Auch das war ein Outing“, erklärt er im Falter-Gespräch die Verbindung. „Er wusste nicht, wie wir reagieren würden. Das ist wie eine Wette. Man unterstellt dem Gegenüber, dass es damit klarkommen kann. Mit dem Outing erhebt man die anderen, man macht sie klüger.“
Ebenfalls den Tod verhandelt Nikitins neueste Arbeit „24 Bilder pro Sekunde“. Der Titel bezieht sich auf ein Zitat des Film-Auteurs Jean Cocteau: „Filmemachen bedeutet, den Menschen in 24 Bildern pro Sekunde beim Sterben zuzuschauen.“ Erstmals erklingt dabei in einem Nikitin-Stück kein Text. Das Klavierquartett Kukuruz zitiert die neuere Musikgeschichte von Julius Eastmans „Gay Guerilla“ bis zum Soundtrack von „Game of Thrones“, auf der Bühne agieren sechs Tänzerinnen und Tänzer.
„Film hat viel mit Bild zu tun, aber noch viel mehr mit Zeit“, sagt der Regisseur. „Tanz wird mit Vitalität, Virtuosität und Professionalität assoziiert. Selbst der konzeptionelle zeitgenössische Tanz gibt sich meist vital und gesund.“ Die Auseinandersetzung mit den Themen Verwundbarkeit und Sterblichkeit vor dieser Folie bildet nur scheinbar einen Widerspruch.
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