Bei den Salzburger Festspielen setzen Milo Rau und Ursina Lardi dem „Jedermann“ eine „Everywoman“ entgegen
Milo Rau passt nicht zu den Salzburger Festspielen. Der Schweizer Theatermacher war immer schon gern gesehener Gast bei den weniger traditionsbewussten Festivals, in Österreich dem Steirischen Herbst oder zuletzt den Wiener Festwochen. Als Leiter des Nationaltheaters Gent in Belgien zeigt er, wie man Stadttheater international und zeitgemäß gestaltet. Aber Salzburg, das ist gewagt von einem Dokumentaristen, bei dem noch nie einfach Schauspieler geradlinig eine fiktive Geschichte auf der Bühne erzählt haben.
Dennoch wurde der 43-jährige Rau zum 100. Geburtstag der Festspiele eingeladen, den „Jedermann“ zu bearbeiten, jenes moralinsaure Mysterienspiel von Hugo von Hofmannsthal, das Jahr für Jahr auf dem Salzburger Domplatz läuft. Rau tat sich mit der Schauspielerin Ursina Lardi zusammen, mit der er bereits das Recherche-Stück „Mitleid“ für die Schaubühne Berlin entwickelt hatte. Die Schaubühne ist auch Koproduktionspartnerin von „Everywoman“, dem Gegen-„Jedermann“, der 2020 trotz Corona seine Uraufführung feiert.
Was im Theatersaal der Szene Salzburg zu sehen ist, hat freilich wenig mit Raus und Lardis ursprünglichen Plänen zu tun. Zur Recherche waren die beiden nach Brasilien gereist, um die Situation indigener Frauen zu verstehen. Daraus sollte ein Abend über Kunst, Feminismus und Solidarität werden. Vielleicht ist es für das Salzburger Publikum ganz gut, dass die Pandemie diesen weltpolitischen Zugang kompromittiert hat. Es bekam dafür eine so intime wie kraftvolle Auseinandersetzung mit dem Sterben, dem Stoff des „Jedermann“ und nicht zuletzt mit dem Medium Theater zu sehen.
Im Lockdown lernten Rau und Lardi die unheilbar krebskranke 71-jährige Berlinerin Helga Bedau kennen, die als junge Statistin ihre Theaterlust entdeckt hatte und – so heißt es zumindest im Rahmen der Aufführung – vor ihrem Tod noch einmal in einem Stück mitwirken wollte. Eine Everywoman war gefunden.
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