Der Pianist Markus Hinterhäuser leitet die Salzburger Festspiele, die heuer trotz Corona stattfinden. Ein Gespräch über Karajans Aura, Peter Handkes Defizite und die heilige Kuh „Jedermann“
Der Aufzug zum Mönchsberg, wo die Presseterrasse der Salzburger Festspiele liegt, ist zu eng, um ihn in Coronazeiten gemeinsam mit der Presseassistentin zu betreten. Man muss die Stiegen nehmen und keucht ziemlich unter dem verpflichtenden Mund-Nasen-Schutz. Am Vortag war der Fall einer infizierten Festivalmitarbeiterin bekannt geworden. Sie scheint sonst niemanden aus dem Team angesteckt zu haben, dennoch ist Intendant Markus Hinterhäuser (62) sichtlich angespannt. Die Salzburger Festspiele sind die bisher größten ihrer Art, die trotz Pandemie – in einer modifizierten Version – stattfinden. Vor allem aber feiern sie ihr hundertjähriges Bestehen, eigentlich soll also darüber gesprochen werden. Drei Tische entfernt, mit großem Sicherheitsabstand, nimmt Hinterhäuser Platz. Er wartet, bis die Mittagsglocken des Domes zu Ende geläutet haben, dann geht es los.
Falter: Herr Hinterhäuser, können Sie sich noch an die erste Veranstaltung erinnern, die Sie bei den Salzburger Festspielen erlebt haben?
Markus Hinterhäuser: Ich war jung und habe in Salzburg Klavier studiert. Ein Mitarbeiter einer Schallplattenfirma schenkte mir eine Karte für die Generalprobe des „Parsifal“ unter Herbert von Karajan. Ich war vollkommen narkotisiert, von der Aufführung wie auch von dem magischen Moment der Stille, bevor der Dirigent den Graben betritt. All das hatte eine ungeheure suggestive Kraft. In den großen, in den erfülltesten Momenten haben diese Vorgänge ja viel mit Aura zu tun.
Aura?
Hinterhäuser: Die Aura des Werks und des Künstlers, aber auch die Aura der Institution. Es gibt diesen wunderbaren Satz von Walter Benjamin: „Aura ist die Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag.“ Diese Dialektik zwischen Nähe und Ferne beschäftigt mich sehr – auch als Intendant. Ich wollte Karajan nach diesem Parsifalunbedingt auch einmal aus der Nähe sehen. Ich wusste, dass er das Festspielhaus nicht durch den Haupteingang verlassen würde, sondern durch das Tor auf der Rückseite des Gebäudes. Und da kam er auch tatsächlich in Begleitung seines Sekretärs, setzte sich ans Steuer seines silbernen Porsches und zwei Polizisten hielten den Verkehr auf. Niemand durfte das Neutor passieren, bevor nicht Herbert von Karajan Richtung Anif davongebraust war. Das fand ich kurios, auch irgendwie befremdlich, aber schlussendlich eindrucksvoll.
Wann haben Sie ihn dann angesprochen?
Hinterhäuser: Niemals. Karajan ist 1989 gestorben, ich habe ihn nie kennengelernt. Erst drei Jahre danach haben Tomas Zierhofer-Kin und ich mit dem Zeitfluss-Festival begonnen und langsam, aber sicher Einzug in dieses Festspielhaus gefunden.
Wollten Sie damals schon Intendant hier werden?
Hinterhäuser: Ich weiß gar nicht, ob das jemals ein erklärter Wunsch von mir war. Ich habe damals entdeckt, dass es mir Freude macht, durch Musik, also etwas, das mich vital interessiert, mit Menschen in Kontakt zu treten. Der damalige Konzertchef Hans Landesmann hat die eine oder andere Weiche gestellt. Aber ich habe nie an das Gittertor der Festspiele gerüttelt wie Gerhard Schröder an den Zaun des Kanzler-Bungalows und gesagt: „Ich will da rein!“.
Als Sie die Wiener Festwochen übernahmen, war das nur für drei statt fünf Jahre, weil bekannt war, dass der Posten in Salzburg 2017 frei wird.
Hinterhäuser: Warum das nur auf drei Jahre angelegt war, weiß ich nicht, das kann man mir glauben. Nach Zeitfluss habe ich CD-Aufnahmen gemacht, viele Konzerte gespielt und in Theaterproduktionen mitgewirkt, bevor ich hier out of the blue die Möglichkeit bekam, Konzertchef zu werden. Wieder war es Landesmann, der mich empfohlen hatte. Nach dem frühzeitigen Abgang von Jürgen Flimm war ich ein Jahr Interimsintendant. Dann wurde für Alexander Pereira als Nachfolger entschieden und die Wiener Festwochen fragten, ob ich sie übernehmen wolle. Kaum war ich in Wien, schlug das Pendel in Salzburg um.
Jetzt sind Sie Intendant. Ist die Aura, die Sie beschrieben haben, noch da?
Hinterhäuser: Davon bin ich überzeugt. Hundert Jahre Salzburger Festspiele sind auch hundert Jahre europäische Kulturgeschichte.
Hat sich viel verändert?
Hinterhäuser: Wenn ich in die Neunziger zurückblicke, ist das fast ein Blick in eine Welt von gestern. Die Salzburger Festspiele sind in ihrem Programmangebot wesentlich umfangreicher geworden. Ihre Zugänglichkeit – im Sinne des Zulassens von Anspruchsvollem – ist deutlich gestiegen, aber hoffentlich auch ihre Zugänglichkeit im Sinne des Sympathischen. Die Schallplattenindustrie, die hier sehr präsent war, gibt es in dieser Form nicht mehr. Die Frage „Was ist Exklusivität?“ ist ungleich komplexer und schwerer zu beantworten.
Apropos Exklusivität: Die Salzburger Festspiele haben immer noch den Ruf, eher elitär zu sein, nicht ein Festival, bei dem in erster Linie Künstler sich austauschen, sondern eines, wo dem Publikum für viel Geld etwas geboten werden soll. Ist dieser Ruf gerechtfertigt?
Hinterhäuser: Er folgt überkommenen und ziemlich ermüdenden Klischees. Man muss schon bereit sein zu sehen, welche Geografie an ästhetischen Möglichkeiten hier geboten wird. Und man sollte auch bereit sein, sich die Preise einmal genauer anzusehen: Ich weiß, es gibt sehr hohe Kartenpreise, aber es gibt auch das Gegenteil davon. Über 50 Prozent der Karten bieten wir zum Teil weit unter 100 Euro an, auch die Angebote für Jugendliche sind mehr als erschwinglich.
Die Zugänglichkeit hat auch damit zu tun, dass Sie vermehrt Regisseure aus dem Schauspielbereich mit Opern betrauen.
Hinterhäuser: Es gibt auch immer mehr Sänger, die schauspielerisch etwas zu bieten haben. Wenn ein Regisseur klug ist, kennt er den Unterschied zwischen der Darstellung eines Schauspielers und der eines Sängerschauspielers. Dann entsteht etwas, das Oper ist, aber auch Musiktheater. Ich versuche, für die Erzählung jeder Oper den idealen Regisseur zu finden. Dass „Salome“ bei Romeo Castellucci gut aufgehoben ist, dessen war ich mir vollkommen sicher. Auch bei Asmik Grigorian wusste ich gegen alle Widerstände, dass sie die Richtige für die Hauptrolle ist. Das ist auf die ergreifendste Weise aufgegangen. Ihre Interpretation wird nachhaltig in die Rezeptionsgeschichte der „Salome“ eingehen.
Dieses Jahr singt Asmik Grigorian in Richard Strauss’ „Elektra“ in der Regie von Krzysztof Warlikowski.
Hinterhäuser: Warlikowski ist nicht ganz so unorthodox wie Castellucci. Seine „Elektra“ wird eine fast seismografische psychologische Studie sein.
Sie haben Bettina Hering als Schauspieldirektorin. Beteiligen Sie sich an der Auswahl des Schauspielprogramms?
Hinterhäuser: Für den künstlerischen Gesamteindruck ist der Intendant verantwortlich, aber natürlich hat Bettina Hering eine starke Autonomie.
Wurde die Entscheidung zur Uraufführung von Peter Handkes „Zdeněk Adamec“ nach der Kontroverse über Handkes umstrittenes politisches Engagement, die nach der Vergabe des Literaturnobelpreises 2019 an ihn neu hochkochte, infrage gestellt?
Hinterhäuser: Nein. Ich halte Peter Handke für einen der ganz großen Dichter unserer Zeit, der mit einer vergleichslosen Konsequenz eine Poetologie unserer Welt zeichnet. Er hat mir das Stück zum Lesen gegeben, nachdem wir in Paris einen schönen und irgendwie ausgelassenen Abend verbracht haben. Im Zuge der Nobelpreisverleihung an Peter Handkehat sich die Debatte, die mit Unterbrechungen ja schon länger geführt wird, auf einem absolut jämmerlichen Niveau bewegt. Die Diskussion, ob in der Wertung des Werks eines Künstlers charakterliche oder weltanschauliche Defizite, vermeintliche oder tatsächliche, eine Rolle spielen sollen, mag ja für viele interessant sein. Für mich ist sie das weit weniger. Es wäre eine Diskussion, die sich durch die ganze Kulturgeschichte ziehen würde, von Malern über Schriftsteller, zu Komponisten und Interpreten. Ich bin sehr, sehr glücklich darüber, dass wir dieses Stück machen.
Muss ein Kunstfestival wie die Salzburger Festspiele nicht auch politisch sein?
Hinterhäuser: Es kann nur politisch sein, und zwar in einem großen Gedankengebäude. Das aufs Tagespolitische zu beziehen, ist mir zu läppisch. Es wäre ein großer Fehler, die Salzburger Festspiele als etwas Eskapistisches zu sehen. Die Vitalität einer Partitur kann sich nur äußern, indem man sie ständig aus der Perspektive der Gegenwart neu befragt.
Vor hundert Jahren sind die Salzburger Festspiele aus einem Geist der Antimoderne entstanden, unter Beteiligung von Hugo von Hofmannsthal, der unterem damit die „konservative Revolution“ erklärte. Wie gehen Sie als moderner Intendant mit dieser Gründungsgeschichte um?
Hinterhäuser: Der Gründungsmythos der Salzburger Festspiele ist deutlich vielschichtiger als der Versuch, sie auf die Phänomenologie einer konservativen Revolution zu reduzieren. Es gab die Utopie eines Weltgegenentwurfs zu einem sozialen und ökonomischen Niedergang.
Ein Element wurde über hundert Jahre konserviert: Hofmannsthals „Jedermann“ steht in wechselnden Besetzungen und Inszenierungen jährlich auf dem Spielplan. Ist der „Jedermann“ eine heilige Kuh, die nicht geschlachtet werden darf?
Hinterhäuser: Ich bin sehr dafür, dass der „Jedermann“ gespielt wird, und zwar jedes Jahr. Er gehört in einer zwingenden Weise zur DNA der Salzburger Festspiele. Manchmal kann einem die Sprache etwas hölzern, befremdlich, gesucht vorkommen. Aber wenn man ihn nicht als halb-folkloristische Unternehmung sieht, kann uns der „Jedermann“ in erstaunlichem Maße angehen. Er macht ein großes Angebot zur Reflexion.
Kennen Sie „jedermann (stirbt)“, die Überschreibung von Ferdinand Schmalz aus dem Jahr 2018?
Hinterhäuser: Ja, die habe ich im Burgtheater gesehen. Das war zu Recht ein großer Erfolg. Aber ich wäre nicht gut beraten, so eine Überschreibung in Salzburg zu initiieren. In diesem Jahr haben wir Milo Rau mit „Everywoman“ im Programm, eine Arbeit, deren Titel allein schon ein Kommentar zum „Jedermann“ ist.
Mehr im Falter 30/20