Das große Heft – Kosmos Theater Wien – Sara Ostertag adaptiert den Roman von Ágota Kristóf
Wien, 3. Dezember 2019. Haben wir nicht alle einen Zwilling irgendwo? Da gab es doch mal diese Theorie. Vielleicht interessieren uns deshalb die Geschichten über Eineiige in der Literatur. Meist sind es Brüder, so auch die Ich-Erzähler, nein: Wir-Erzähler aus Ágota Kristófs Roman "Das große Heft". Dass Sara Ostertag sie mit Frauen besetzt, mag daran liegen, dass ihre Inszenierung in Koproduktion zwischen ihrer Gruppe Makemake Produktionen und dem Kosmos Theater entstand, das Künstlerinnen fördert. Der Erzählung schadet es keineswegs, verleiht doch dafür Martin Hemmer der als Hexe verschrienen Großmutter besenschwingend eine faszinierende Genderfluidität; Simon Dietersdorfer als Polizist trägt High-Heels.
Wer sind sie, und wenn ja wieviele?
Nanna Neudecks Bühne ist einerseits Sandkiste, denn die Hauptfiguren sind ja Kinder, andererseits erklären diese: "Wir spielen nie!" und ducken sich hinter den Erdhaufen wie im Schützengraben. Es herrscht der Zweite Weltkrieg in der ungarischen Provinz, den die 1935 geborene Autorin als Kind erlebte (später floh sie in die Schweiz und schrieb auf Französisch). Die bei Oma geparkten Zwillinge zwingen sich durch selbst auferlegte Übungen fast autistisch zur totalen Abhärtung, hungern, lernen Fremdsprachen und Aufsatzschreiben, aber auch, wie man Fische und Hühner tötet. Die Welt harmloser Disneyfilme wie "Schneewittchen" oder "Cinderella", aus deren Soundtracks in Ostertags Inszenierung Ausschnitte eingespielt werden, ist sehr weit weg.
Am Ende des Romans werden die Zwillinge beim Versuch, die Grenze zu überqueren, getrennt, und in zwei Fortsetzungs-Bänden nährte Kristóf Zweifel daran, ob der zweite Zwilling je existiert hat. Hieraus bezieht Ostertag den Kniff, der ihre Inszenierung etwa von Ulrich Rasches Dresdner Männerversion abhebt: Zu Beginn sehen wir nur die Schauspielerin Jeanne Werner und fragen uns, wen sie mit "Wir" meint. Erst Absätze später "exhumiert" sie Martina Rösler aus dem Sand. Auch der allzu erwartbare Gleichklang und -schwung des Paares bleibt aus – unsere Spiegelung im Anderen, das "Wir", ist oft eben doch nur eine Sehnsucht. Rösler ist Tänzerin und sagt kein Wort, auch ihre Bewegungen spiegeln eher noch jene des jeweiligen Gegenparts als die Werners. So führt sie zum Dank für die erfolgreiche Erpressung des Pfarrers und Sextäters (Hemmer) mit ihm ein "All the Single Ladies"-Tänzchen auf.