In meinem 2016 erschienenen „Buch der Schurken“ versammelte ich 100 der genialsten Bösewichte der Weltliteratur in einem Minilexikon. Einige blieben dabei auf der Strecke. Schändlicherweise. Hier begleiche ich nach und nach die schurkische Schuld.
Einem freundlichen Herrn mit milde amüsiertem Blick, wie Erich Kästner einer gewesen sein muss, traut man nicht zu, dass er Gut und Böse gegeneinander ausspielt. Selbst in seinem ersten Jugendbuch Emil und die Detektive (1929) erklärt der alte Moralist, „man solle von jedem Menschen, ehe er das Gegenteil bewiesen hat, das Beste annehmen.“
Und dann beweist er tatsächlich das Gegenteil, der Mann mit dem steifen Hut, der vielleicht erste realistische Bösewicht in der Kinderliteratur. Erst schreckt er im Zug den jungen Emil Tischbein, der aus Neustadt ins unübersichtliche Berlin reist, mit futuristisch überzogenen Beschreibungen der Hauptstadt. Dann bietet er ihm Schokolade an. „Das gefiel Emil nicht sehr. Ein Mann, der Schokolade verteilt und verrückte Geschichten erzählt, ist nichts Genaues.“ Unheimliche Kinderschänder-Assoziationen sind von Kästner aber kaum beabsichtigt. Der Mann mit dem steifen Hut ist einfach ein gesuchter Bankräuber und notorischer Dieb, und als Emil eingeschlafen ist, stiehlt er ihm die bitter für die Oma ersparten 140 Mark aus der Hemdstasche. Er ist dem Emil, dessen Schülermütze laut damaliger Mode durchaus rot gewesen sein dürfte, der böse Wolf.
Nennen wir ihn Grundeis, denn so stellt er sich anfangs in aller durchtriebenen Höflichkeit vor (später wird er sich auch noch die Namen Müller und Kießling geben, korrekt ist wohl keiner davon). Wenn jemand große Angst etwa vor einer Aufgabe hat, sagt man, ihm gehe „der Arsch auf Grundeis“. Hier, mit Verlaub, macht der Grundeis einen auf Arsch. Um ihn zu stellen, braucht es zwanzig so abenteuerlustige wie pflichtbewusste Kinder mit coolen street names wie „Gustav mit der Hupe“, „der Professor“ und „Pony Hütchen“ sowie gefinkelte Verkleidungs- und Beschattungstaktiken.
Seine Persönlichkeit bleibt eher rätselhaft – die perfekte Grundlage für eine disneyhafte Überzeichnung in den mindestens acht Verfilmungen des Romans, in denen die Grundeis-Darsteller meist den irren Blick hatten, zuletzt Jürgen Vogel 2001. Fest scheint nur zu stehen, dass er keine Kinder mag. Das einzige Mal, als uns der Autor Einblicke in Grundeis’ Kopf erlaubt, entdeckt er gerade die detektivischen Kids auf dem Platz vor seinem Hotel und schnaubt verächtlich: „Wahrscheinlich Ferien.“