Lewis Carroll
Alice im Wunderland
Deutsch von Christian Enzensberger
Zeichnungen von Floor Rieder
Gerstenberg, 25,70 Euro
Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal ein wunderbar berühmtes, 150 Jahre altes Lexikon der Halluzinationen
“Alice war es allmählich leid, neben ihrer Schwester am Bachufer stillzusitzen und nichts zu tun. Denn sie hatte wohl ein- oder zweimal einen Blick in das Buch geworfen, in dem ihre Schwester las, aber nirgends waren darin Bilder oder Unterhaltungen abgedruckt. ,Und was für einen Zweck haben schließlich Bücher‘, sagte sich Alice, ,in denen überhaupt keine Bilder und Unterhaltungen vorkommen?‘”
Bilder und Unterhaltungen. Gut möglich, dass Alice Liddell, 10, genau diesen Vorwurf an die Literatur ihrer Zeit äußerte, als sie mit dem Mathematikprofessor Charles Lutwidge Dodgson in einem Boot über die Themse ruderte. Dodgson schien die Kleine zu gefallen (Pädophilievorwürfe, um das gleich vom Tisch zu haben, sind nicht erwiesen), und er improvisierte für sie eine Geschichte über ein Mädchen namens Alice, das in einen Kaninchenbau fällt und surreale Abenteuer erlebt. Er möge sie doch aufschreiben, bat die geschmeichelte Empfängerin. Und er schrieb: 1865, also vor 150 Jahren, veröffentlichte Dogdson unter dem Pseudonym Lewis Carroll „Alice im Wunderland“ mit Zeichnungen von John Tenniel. Es wurde ein Weltbestseller, den im wahrsten Sinne des Wortes jedes Kind kennt.
Die absurden, aber endlos fantasievollen Begebenheiten, die Alice erlebt, folgen ihrer besonderen Logik wie im Traum oder aber wie nach Einnahme gewisser Halluzinogene, worauf gleich zu Beginn durch den Pilz angespielt wird, der Alice wachsen lässt, wenn sie auf der einen, und schrumpfen, wenn sie auf der anderen Seite abbeißt. So kommen Kinder wie Erwachsene auf ihre Kosten: Sprachverspielte genießen die grotesk frustrierenden Konversationsversuche auf der Dialogebene (die Unterhaltungen eben), andere die bildmächtige Fantasiewelt, die Carroll und sein Zeichner aufschlagen: Ob es nun das gestresste weiße Kaninchen ist oder die verrückte Teegesellschaft, bei der alle Beteiligten einen Stuhl weiterrücken, wenn einer eine saubere Tasse möchte, oder die Herzkönigin, die Croquet mit Flamingos und Igeln spielt – das eine oder andere Bild erwecken Alice’ Abenteuer wohl bei jedem von uns, auch wenn es eine Zeit her sein mag, dass wir das Buch wirklich gelesen haben.
Die Jubiläumsausgabe des Verlags Gerstenberg mit Zeichnungen der jungen Niederländerin Floor Rieder bietet eine hervorragende Gelegenheit, dies wieder einmal zu tun. Denn 150 hin oder her, der unlogischste Parcours, den sich je ein Logiker zu entwerfen traute, wird gewiss niemals alt.
TRÄUM WEITER
Das kleine Mädchen und seine surrealen Fantasien in unzähligen Ausformungen
Fortsetzung
Wer die Gerstenberg-Ausgabe wendet, findet sich plötzlich wie „Alice hinter den Spiegeln“. Lewis Carroll schob seine weit weniger bekannte Fortsetzung 1871 nach. Wieder entdeckt Alice aus Neugier eine Parallelwelt, diesmal eine gespiegelte Variante ihres eigenen Hauses, in dem die Gegenstände lebendig sind. Dieser Roman lässt bekannte Figuren aus englischen Kinderreimen auftreten, etwa Tweedledum und Tweedledee und das Ei mit Beinen Humpty-Dumpty.
Film
Verfilmungen der carrollschen Wunderlandschaft gibt es knapp hundert. Genannt sei jene des tschechoslowakischen Gruselmeisters Jan Švankmajer und die neueste, von diesem inspirierte Version des Tim Burton. Der US-amerikanische Surrealo-Spezialist stellte Mia Wasikowska als Alice vor und besetzte sonst sein Lieblingsteam: Johnny Depp als verrückter Hutmacher, Christopher Lee als Jabberwocky und Helena Bonham Carter als Königin (eine Mischung aus mehreren Regierenden in den beiden Alice-Bänden). 2016 gibt es einen Teil 2.
Anime
Adrettes kleines Mädchen trifft bizarre Tiere und andere Kreaturen und bestaunt diese mit großen Augen – Alice ist ein gefundenes Fressen für die japanische Manga- und Anime-Kultur. In den Achtzigern erschien, auch bei uns, eine erfolgreiche und prägende TV-Serie, die sich stark am Original orientiert. Eine weitere Anime-Serie aus dem Jahr 2006 arbeitet auf der Metabene mit der Berühmtheit des Buches.
Musical
Brandneu und auch ein Geburtstagsgeschenk für Alice: Sie wurde am Londoner National Theatre zum multimedialen Spektakel mit gepixelter Grinsekatze, designt vom Team des Welterfolgs „Warhorse“. Das „wonder.land“ (so der Titel) ist hier – durchaus schlüssig – das Internet. Der schüchterne Teenager Aly wird online zur selbstbewussten Alice. Damon Albarn von Blur hat’s geschrieben, und „blur“ heißt ja passenderweise auch, dass alles (Realität und Fiktion, Literatur und Pop) ununterscheidbar verschwimmt. Willkommen im neuen Jahrtausend, Alice!
WUNDERLICHES: FOLGLICH BIN ICH VERRÜCKT
Von den Figuren in „Alice im Wunderland“ lässt sich einiges lernen
“Eine Schlange bist du, da hilft dir alles Leugnen nichts. Nächstens wirst du mir noch einreden wollen, dass du nicht weißt, wie ein Ei schmeckt! (...) Dass du nach Eiern suchst, weiß ich schon längst. Und also ist es ganz gleich, ob du ein Mädchen bist oder eine Schlange.”
“Ein Hund knurrt, wenn er zornig ist, und wedelt mit dem Schwanz, wenn er sich freut. Ich dagegen knurre, wenn ich mich freue, und wedle mit dem Schwanz, wenn ich zornig bin. Folglich bin ich verrückt.”
“,Scheine, was du bist, und sei, was du scheinst‘ – oder einfacher ausgedrückt: ,Sei niemals ununterschieden von dem, als was du jenen in dem, was du wärst oder hättest sein können, dadurch erscheinen könntest, dass du unterschieden von dem wärst, was jenen so erscheinen könnte, als seiest du anders!.‘”
“Nein, nein! Zuerst die Strafe, dann das Urteil!”