Die Heftlinge
Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal: Zwillinge im Krieg – Agota Kristofs erschreckend kühles Meisterwerk in Rumpfsätzen
“Großmutter sagt zu uns:
– Hundesöhne!
Die Leute sagen zu uns:
– Hexensöhne! Hurensöhne!
Andere sagen:
– Schwachköpfe! Spitzbuben! Rotzbengel! Esel! Ferkel! Schweine! Gesindel! Luder! Kleine Scheißer! Galgenstricke! Mörderbrut!
Wenn wir diese Wörter hören, wird unser Gesicht rot, unsere Ohren dröhnen, unsere Augen brennen, unsere Knie zittern.
Wir wollen nicht mehr rot werden und zittern, wir wollen uns an die Beschimpfungen, an die verletzenden Wörter gewöhnen.”
Abhärtung. Und so machen die beiden Burschen diverse Übungen. Sie beschimpfen und prügeln einander, essen einen Tag lang nichts, bis es ihnen nichts mehr ausmacht. Um auch geistig nicht zu verweichlichen, schreiben sie Aufsätze in ein großes Heft und lernen mechanisch Fremdsprachen. Es ist die denkbar nüchternste, effektivste Art, mit Leid am Land im Krieg umzugehen, eine Idee, auf die man womöglich nur kommt, wenn man ein identisches Pendant von sich selbst vor sich hat, das genau so denkt wie man selbst – die permanente Selbstbestätigung: den Zwilling.
Die vor genau 80 Jahren in Ungarn geborene Ágota Kristóf erlebte den zweiten Weltkrieg als Kind in der Provinz mit, floh im Zuge des Aufstands 1956 in die Schweiz und arbeitete dort ab den Siebzigern als Hörspiel- und Prosaautorin auf Französisch. „Das große Heft“ (1986) ist ihr unbestritten größter Erfolg. Die Verrohung während des Krieges exerziert sie in einer Sprache durch, die auch von einem Computer stammen könnte: Kurze Sätze, meist ohne Nebensätze, beschreiben zunehmend erbarmungslose Handlungen. Die anfangs mitleiderregenden Zwillingsbrüder, die von ihrer Mutter aus der Not heraus bei der als Hexe verschrienen Oma geparkt wurden, scheinen nach zunehmender Selbstabhärtung und -ertüchtigung zu allem fähig. Umso heftiger fährt es uns in die Leserglieder, wenn die zwei schließlich zur härtesten aller Selbstdisziplinierungsmaßnahmen greifen und sich voneinander trennen.
In zwei Fortsetzungen („Der Beweis“, „Die dritte Lüge“) verfolgte Kristóf das getrennte Leben der einstigen Heft-linge weiter und ließ einen durch Andeutungen stutzig werden: Moment mal! Gab es etwa von Anfang immer nur einen?
2013 wurde „Das große Heft“ vom Ungarn János Szász als Koproduktion mit Österreich als Horrorkabinett verfilmt: Mit leeren Blicken auf weiter Flur brillieren neben zwei jugendlichen Zwillingsbrüdern Ulrich Matthes als Vater und Piroska Molnár als Großmutter.
EINEIIGER LESESPASS
Die zwingendsten Zwillinge zwischen Buchdeckeln
Die Antipholusse und die Dromios
Namensgleiche Zwillinge im Doppelpack: Ein Antipholus und sein Sklave Dromio werden vom anderen Antipholus und dessen Sklaven Dromio bei der Geburt getrennt. Einzig möglicher Stücktitel für diesen Shakespeare-Wahnsinn: „Komödie der Irrungen“.
Zwiddeldum und Zwiddeldei
Die zwei rundlichen Kinderreimgestalten, die Lewis Carroll in „Alice hinter den Spiegeln“ auftreten lässt (aber auch Jasper Fforde in seiner Serie „Nursery Crime“), personifizieren die Tragik des Zwillingstums: Sie wollen eigentlich streiten, schaffen es aber nie, einander zu widersprechen. Einmal eineiig, immer einig.
Die Rentheim-Schwestern
Ibsens „Bankerdrama“ ist derzeit in einer modernen Fassung mit Birgit Minichmayr und Martin Wuttke im Akademietheater zu sehen. Ein geheimer Starstatus kommt in dem Stück meist nicht Banker Borkman zu, sondern den Zwillingsschwestern, die ihn umgeben. Untypisch für die klassische Zwillingspsychologie bekämpfen Ella und Gunhild einander mit Zähnen und Klauen.
Lotte und Luise
Erich Kästners Herzschmerz-Kinderbuch, das im Ferienheim Seebühl am Bühlsee beginnt, ist weltberühmt. Zwei Mädchen, die sich nicht mehr daran erinnern konnten, wie ihre Eltern bei der Scheidung die jeweils andere behielten, stellen fest, dass sie – eben nicht „kosmische“, sondern biologische – Zwillingsschwestern sind. Daraufhin schmieden sie Verschwörungspläne, um die Eltern (und einander) wieder für immer zu vereinen.
Fred und George Weasley
Die älteren Brüder von Harry Potters Freund Ron treiben mit Vorliebe Schabernack, wohl weil sie am 1. April geboren wurden. Nach der Schule eröffnen sie einen Scherzartikelladen und bleiben unzertrennlich, bis Autorin J.K. Rowling sich im letzten Band unbarmherzig zeigt und einen, Fred, bei einer Explosion ums Leben kommen lässt.
HEFTIGES: WIR VERKÜNDEN, WIR SAGEN
Ágota Kristófs Zwillinge sprechen stets mit einer Stimme.
“Wir verkünden Großmutter: – Heute und morgen werden wir nicht essen. Wir werden nur Wasser trinken.”
“Wir sagen: – Keine Bange, Großmutter, wir kümmern uns um die Mäuse. Wir basteln Fallen, und die Mäuse, die sich fangen lassen, ersäufen wir in kochendem Wasser.”
“Wir sagen. – Die Leute sterben immer in den Kellern. Wir wollen raus.”
“Wir sagen: – Die Leute sind grausam. Sie töten gern. Der Krieg hat ihnen das beigebracht. Und überall liegt Sprengstoff herum.”
“Wir legen uns bäuchlings hinter den großen Baum, wir halten uns mit den Händen die Ohren zu, wir machen den Mund auf. Es gibt eine Explosion.”