Kazuo Ishiguro
„Alles, was wir geben mussten“
Deutsch von Barbara Schaden
Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal: Eine düstere Zukunftsvision, über die Sie am besten nichts wissen
„Darüber will ich jetzt aber gar nicht reden.“
Einfach loslesen. Hier die Anleitung: Besorgen Sie sich den Roman „Alles, was wir geben mussten“ von Kazuo Ishiguro. Fangen Sie an zu lesen. Lesen Sie vorher nichts über seinen Inhalt! Na gut, diesen Artikel dürfen Sie lesen, die Blitz-Bildung wird bescheiden bleiben – versprochen! – und nichts Wichtiges spoilen. Schauen Sie sich vor allem nicht die plakative Verfilmung mit Keira Knightley an, die 2010 herausgekommen ist, und informieren Sie sich auch über den Film nicht. Lesen Sie einfach los, und Sie werden vielleicht die ganze Nacht nicht aufhören können.
Der Grund dafür ist, dass das Buch mit dem viel schöneren Originaltitel „Never Let Me Go“ des japanischstämmigen Briten Ishiguro zwar eine Dystopie ist, wie es mehrere davon gibt, also eine nicht so heitere Vision einer nicht so fernen Zukunft. Jedoch: Im Gegensatz zu anderen, vielleicht bekannteren, aber vielleicht auch literarisch weniger ausgefeilten Werken versucht der Autor hier nicht, so schnell wie möglich die Gegebenheiten seiner imaginierten Welt zu umreißen, damit alle verstehen, was anders ist als in unserer Wirklichkeit und was gleich ist. Ishiguro lässt seine Ich-Erzählerin Kathy zuerst von ihrer Kindheit und Teenagerzeit im englischen Internat Hailsham berichten, von ihren Freunden Ruth und Tommy, deren Zeit von recht kindischem Geplänkel ausgefüllt wird. Aber etwas ist seltsam: In Hailsham unterrichten nicht Lehrer, sondern „Aufseher“. Die Kinder sollen permanent Kunstwerke produzieren, von denen einige für eine mysteriöse Galerie ausgewählt werden. Und Sex ist zwar durchaus ein Thema, aber – anders als in anderen Internaten der Weltliteratur – keineswegs ein problematisches, wie es scheint.
Mit der Butler-Story „Was vom Tage übrigblieb“ hat der frisch 60 gewordene Ishiguro gezeigt, dass er das große Liebesdrama beherrscht. Herzenstragik gibt es auch hier. Dazu Science-Fiction, am Rande bittere Gesellschaftskritik und auf der formalen Ebene ein beklemmender Kriminalroman, dessen Leser von Kapitel zu Kapitel immer wieder fragt: Was um alles in der Welt ist hier los?
„Never Let Me Go“ wurde für den Booker-Preis nominiert und vom Time Magazine unter die 100 besten Bücher seit 1923 gewählt. Kommenden März – erst zehn Jahre später! – erscheint Ishiguros erster Roman danach. Eigentlich war „The Buried Giant“ schon früher fertig, aber seine Frau meinte: „Das wird nix“, also fing er von vorne an.
SCHAUT SCHLECHT AUS
Dystopische Romane blicken in die Zukunft und sehen dort schwarz.
Einige bekannte Beispiele
„Die Zeitmaschine“
Um erstmals in der Literatur eine Zeitmaschine zu verwenden, fährt der namenlose Reisende bei H.G. Wells gleich einmal ins Jahr 802.701. Dort hat sich die englische Klassengesellschaft linear weiterentwickelt, die Eloi leben auf der Erde, die Morlocken darunter. Viel wird sich nicht ändern, zumindest nicht zum Besseren, war 1895 die Botschaft eines der ersten Sci-Fi-Autoren. Sein Buch ist heute die kultige Grundlage der Moderichtung Steampunk.
„Metropolis“
Ist natürlich als Stummfilmlegende von Fritz Lang bekannter denn als Roman. Der existiert jedoch, stammt von Langs Frau Thea von Harbou und ist gerade erst in einer schönen Ausgabe neu aufgelegt worden. Auch hier gibt es Herrschende und beherrschte Massen, die in einer sinnlosen Fabrik unterirdisch vor sich hin schuften, bis sie revoltieren. Liebesgeschichte zwischen dem Sohn des Oberbosses und einer Schönen aus der Unterwelt inklusive.
Orwell
Von George Orwell sind gleich zwei Klassiker zu nennen, beide Paraphrasen auf das stalinistische Russland der Vierziger, aber in Parallelwelten bzw. der Zukunft angesiedelt: „Farm der Tiere“ zeichnet die Revolution einer eifrigen Gruppe Bauernhoftiere auf, die genau so übel schiefgeht wie der Überwachungsstaat aus dem Jahr „1984“, für den Orwell einfach das Jahr, in dem er schrieb, 1948, umdrehte. Hach, und auch das ist schon wieder so lange her …
„Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten“
Wir kommen in die Neuzeit. Der Schweizer Popliterat Christian Kracht hat 2008 seine eigene Dystopie herausgebracht. Darin kämpft die Schweizer Sowjet-Republik (SSR) gegen den Rest von Europa. Es Kracht (!) und donnert, jedes Zartgefühl ist aus der Sprache verbannt. Ein Buch, wie es Rammstein vertonen könnte. Der Titel jedoch stammt ‒ was für ein Gegensatz ‒ aus der irischen Ballade „Danny Boy“.
„Der Circle“
Für viele das Buch des Jahres 2014, für andere Zeitverschwendung. Die „FAZ“ widmete Dave Eggers‘ Roman seinen gesamten Feuilleton-Teil, „Die Zeit“ verriss ihn genüsslich. Fest steht, dass Eggers eine Dystopie schildert, wie sie einem heute so in den Sinn kommt: „Circle“ ist das Überdrüber-Internetunternehmen, das alles von Google bis Facebook vereint und durch soziale Medien und absolute Transparenz Kontrolle ausübt und die Gehirne der Mitarbeiter ebenso wäscht wie die der Mitglieder.
GEHEIMNISVOLLES: „WARUM HABEN WIR DAS GETAN?“
Auch diese Zitate aus „Alles, was werden wir geben mussten“ werden Ihnen nichts Wichtiges verraten
“Ich kann euch heute nur so viel sagen: Es geschieht aus gutem Grund. Aus einem sehr wichtigen Grund. Wenn ich euch das jetzt zu erklären versuche, würdet ihr es wahrscheinlich nicht verstehen. Aber eines Tages, hoffe ich, wird man es euch erklären.”
“Wie Sie sich denken können, war Sex in den Cottages etwas ganz anderes als in Hailsham. Es ging viel direkter zu – ,erwachsener‘. Man ging nicht kichernd herum und tuschelte darüber, wer es mit wem getan hatte.”
“Das Sonderbare an unserem Ausflug nach Norfolk war, dass wir ihn kaum erwähnten, sobald wir wieder zu Hause waren. Das ging so weit, dass eine Zeit lang alle möglichen Gerüchte darüber kursierten, was wir dort getrieben hätten.”
“Warum haben wir Ihre Kunstwerke mitgenommen? Warum haben wir das getan?”