„Ich komme von Ketchup“
Er erfand den Wiener Aktionismus in Kalifornien neu, ohne ihn zu kennen. Jetzt macht der US-Künstler Paul McCarthy in Wien eine bizarre Sado-Maso-Performance mit der Schauspielerin Lilith Stangenberg. Ausgang: ungewiss.
Das Remake eines Remakes eines erotischen Nazifilms als Dauerperformanceinstallation im Theater. Klingt ein bisschen zum Davonrennen. Das Schöne ist: Genau das darf man bei „NV / Night Vater / Vienna“ tun.
Im Volkstheater gilt bei diesem besonderen Gastspiel freie Platzwahl, das Publikum kann den Saal jederzeit verlassen und wieder zurückkehren. Außerdem verteilen sich die gut 15 Stunden auf vier Abende, an denen jeweils um 23 Uhr fix der Vorhang runtergeht. Radikale Fans bleiben womöglich viermal von Anfang bis Ende (dafür gibt es Ermäßigungen beim Kartenpreis). Normalsterblichen verspricht schon ein einziger Abend eine außergewöhnliche Herausforderung, aber auch ein Erlebnis. Wegen Paul McCarthy, wegen Lilith Stangenberg, vor allem aber wegen der Kombination aus beiden.
Er, 77 Jahre alt, bildender Künstler aus Kalifornien, Großmeister des Happenings, entdeckte Anfang der Siebzigerjahre die Wiener Aktionisten und stellte fest, dass er ihr Bruder im Geiste war. Sie, 34 Jahre jung, kompromisslose Vollblutschauspielerin aus Berlin, verausgabte sich schon mit 17 für Theaterregisseure wie Frank Castorf und verliebte sich später im Kinofilm „Wild“ in einen Wolf.
Diese Schauspielerin forscht unablässig nach den dunklen Seiten des Menschen. Klassische Ausbildung hat sie keine, ihre Theatersozialisation war der Jugendclub P14 an der Berliner Volksbühne. Während andere Interessengemeinschaften für eine Work-Life-Balance gründen, schmeißt sich Stangenberg in das nächste aberwitzige Projekt. Und ist daher ein gefundenes Fressen für einen unkonventionellen Performancekünstler, der vor allem eines von ihr braucht: unermüdlichen Einsatz.
Was es mit Stangenbergs und McCarthys Auftritt in Wien auf sich hat, lässt sich am ehesten anhand der Entstehungsgeschichte von „NV / Night Vater / Vienna“ erklären. An der Berliner Volksbühne (damals unter der Intendanz des besagten Castorf) verwirklichte Paul McCarthy 2015 eine installative Arbeit, für die er mit Ensemblemitgliedern in verschiedenen Räumen des Theaters Szenen drehte. Die Verfliesung eines Badezimmers erinnerte die Beteiligten an den Skandalfilm „The Night Porter“ („Der Nachtportier“) von Liliana Cavani aus dem Jahr 1974.
Darin begegnet die KZ-Überlebende Lucia (Charlotte Rampling) dem ehemaligen SS-Beamten Max (in der deutschen Fassung auch Theo genannt, gespielt von Dirk Bogarde), der in einem Wiener Hotel als Portier arbeitet. Max’ ehemalige Kollegen wollen, dass Lucia in einem inszenierten Prozess gegen ihn und seine Nazi-Verbrechen aussagt. Stattdessen nehmen die beiden ihre sadomasochistische Beziehung von damals wieder auf. Den zweiten Teil des Films verbringen sie von der Außenwelt abgeschnitten in Max’ Wohnung im Karl-Marx-Hof, bis nur der Tod als Ausweg bleibt.
Lilith Stangenberg war großer Fan des Films, seit sie ihn mit 15 zum ersten Mal gesehen hatte. „Soll ich das Lied singen?“, fragte sie beim Dreh in Anspielung auf eine Marlene-Dietrich-Nummer, die Lucia im KZ zum Besten gibt, woraufhin Max ihr zum Dank den abgetrennten Kopf eines ihrer Peiniger präsentiert.
Ein gemeinsames Remake wurde angedacht, erst nur im Scherz, dann kam es 2019 wirklich dazu. Paul McCarthy schrieb mit seinem Sohn Damon die Version „Night Vater“, in der Max ein Hollywood-Produzent ist und Lucia eine Schauspielerin, die bei ihm vorspricht. In Los Angeles wurde ein Set gebaut, das Max’ Wohnung darstellte. Doch der Film, der außerdem in Wien gedreht werden sollte, wurde nie fertig, weil Österreich sich nicht an der Finanzierung beteiligte.
Die Drehtage im heißen Kalifornien verliefen dennoch exzessiv (an einer Speibszene wurde vier Tage lang gefeilt) und lösten eine Kaskade weiterer Ideen aus. So entwickelten sich die Figuren Max und Lucia zu „Adolf“ und „Eva“ weiter, Karikaturen von Hitler und seiner Geliebten Eva Braun. Auch hierzu erdachte der Künstler ein Filmskript, außerdem begannen McCarthy und Stangenberg, einander in diesen Rollen zu zeichnen und sich wiederum dabei zu filmen.
An vorerst letzter Stelle des Prozesses steht schließlich seine Manifestation in Form zweier Theaterprojekte, beide nach dem Prinzip der Dauerinstallation: Ende August lief am Deutschen Schauspielhaus Hamburg „A & E / Adolf & Eva / Adam & Eve“, und zu guter Letzt kommt das komplexe Projekt doch noch in Wien an: „NV / Night Vater / Vienna“ geht Anfang September über die Bühne des Wiener Volkstheaters.
Was die beiden dort konkret machen werden, wollen sie zum Zeitpunkt des Interviews Mitte Juli noch gar nicht so genau wissen. Schon als Zoom-Kacheln im Doppelinterview bieten die beiden jedenfalls einen kuriosen Anblick. McCarthy, der Bart zerzaust, die Jacke bis zum Kinn zugezippt, ist in seinem Atelier in L.A. aus einer leichten Froschperspektive zu sehen, wie man sie von Videoanrufen bei der Großelterngeneration kennt. Stangenberg thront inmitten von Büchern in ihrer Berliner Wohnung. Einmal hebt sie beispielhaft eines in die Kamera, das sie gerade liest. Es stammt – natürlich – vom Marquis de Sade.
Weiter im Falter 35/22