Seit 2017 ist Philippe Bischof Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Als ehemaliger Regieassistent, Regisseur und Dramaturg kennt der heute 54-jährige die Kunst von innen. So kommt es, dass er nicht nur mit seiner Unterschrift Geld verteilt, sondern auch den Überblick über die schier unglaubliche Menge von 15 Produktionen hat, die die Schweiz dieses Jahr zu ImPulsTanz entsendet. Der Falter traf Bischof bei einem seiner zahlreichen Wien-Besuche zur Vorbereitung des Gastauftritts aus dem Westen zum Gespräch.
Falter: Herr Bischof, für ahnungslose Ösis: Was ist Pro Helvetia?
Bischof: Wir sind eine hundertprozentig staatsgeförderte Stiftung, die in ihrer Funktionsweise autonom ist. Der Direktion steht ein Stiftungsrat vor. Mit Ausnahme der Governance hat die Politik kein Eingriffsrecht in unsere Entscheide. Wir haben nach gesetzlich festgelegten Zielen den Auftrag zur Förderung und Verbreitung des Schweizer Kunstschaffens innerhalb und außerhalb der Schweiz. Für eine Förderung ist der Schweizer Pass keine Voraussetzung, sondern die Präsenz und Verankerung im hiesigen Kulturleben. Ergänzend zum Grundauftrag setzen wir im Rahmen der Kulturbotschaft des Bundes Vierjahresprogramme mit spezifischen Förderzielen um. In den letzten Jahren liegt ein Hauptfokus in der Verbreitung und Vernetzung im Sinne von nachhaltiger Zusammenarbeit: Die geförderten Projekte sollen eine möglichst grosse Lebensdauer und Reichweite haben.
Wird das durch die verschiedenen Sprachregionen erschwert?
Bischof: Es ist eine ständige Challenge. Nicht nur die Sprache, auch die kulturelle Orientierung ist je nach Region unterschiedlich. Wir sagen oft halb scherzhaft, dass Zürich und Berlin kulturell näher beieinander liegen als Zürich und Genf. Da einen gemeinsamen Nenner zu finden, ist manchmal schwierig. Wir haben zum Beispiel Schweiz-Schwerpunkte bei den Festivals in Avignon und Edinburgh etabliert. Da gab es viele Diskussionen über Ausgewogenheit, denn der anglophone Markt ist für die Deutschschweiz wichtiger als für die französische, die es natürlich eher nach Avignon zog.
Können Sie aktuelle Trends in der Schweizer Tanz- und Performanceszene ausmachen?
Bischof: Zeitgenössischer Schweizer Tanz arbeitetoft eng mit anderen Sparten wie Musik oder visueller Kunst zusammen. Viele Projekte sind recherchebasiert, da wird biografische oder wissenschaftliche Forschung in Performatives umgewandelt. Kollektive und Ad-Hoc-Konstellationen haben die Ensembles teilweise abgelöst. Eine weitere Schweizspezifik ist sehr gutes Handwerk: Unabhängig davon, wie relevant eine Arbeit ist, merkt man oft, dass sie gut gemacht ist. Wie anderswo überwiegen zur Zeit die kleineren, experimentellen Formate. Schließlich beobachten wir seit kurzem, sicher durch Covid verstärkt, einen Trend zur Wiederaufnahme von Repertoire: Man widmet sich früheren Werken aus der eigenen Schaffensbiografie oder von anderen, Tanzgeschichte wird lebendig gemacht und befragt.
Ein Schauspieler hat mir mal gesagt, die Schweizer gehen nur ins Theater, um nachher essen zu gehen. Wie sind die Publikumsstrukturen bei Tanzproduktionen?
Bischof: Es kommt sicher eher ein junges, „cutting-edge“ Fachpublikum, das oft auch eine Nähe zur bildenden Kunst oder zur elektronischen Musik hat. Man spürt deutlich, in welchen Städten es auch große Ballettkompanien gibt, dort mischen sich die Publika etwas mehr. Das Publikum bleibt über die vergangenen Jahre insgesamt erfreulich stabil.
Wie herausfordernd ist Covid für Sie als Förderstiftung?
Bischof: Wir mussten schnell reagieren und Hilfsmaßnahmen organisieren, etwas, womit wir keinerlei Erfahrung hatten. Dann wollten wir die Szenen in ihren spezifischen Problemen anhören und bestmöglich begleiten. Welche Sprache findet man da? Wie relativiert man und nimmt die Leute trotzdem ernst, wie ermutigt man sie? Im Laufe des Jahres haben wir unsere Förderungen angepasst und laufend offener, flexibler gestaltet. Statt Tourneen haben wir zum Beispiel Recherchen gefördert oder mehrere Open Calls ausgeschrieben, die formatoffen waren. Dabei haben wir viel Positives und Zukunftsfähiges entdeckt und gelernt. Jetzt wollen wir damit gar nicht mehr aufhören. Einiges werden wir behalten, bei anderem bleiben wir hybrid zwischen alten und neuen Formaten.
15 Schweizer Aufführungen bei ImPulsTanz 2021: Ging die Initiative von Ihnen und Pro Helvetia aus?
Philippe Bischof: Nur insofern, als dass wir seit einiger Zeit bemüht sind, vertiefte fokussierende Plattformen zu fördern. Unsere Abteilung Darstellende Künste und ImPulsTanz haben seit zwei Jahren eng zusammengearbeitet. Denn neben der Freude für das Tanzschaffen treibt uns, die Sorge um, dass wir mit Österreich trotz der geografischen Nachbarschaft wenig strukturelle Partnerschaften haben. Aber das wunderbare Interesse ging von ImPulsTanz aus ebenso wie die Kuration: Wir sind keine Promotionsagentur, wir würden nie sagen: „Die müsst ihr einladen.“ Wir empfehlen höchstens und weisen auf den Nachwuchs hin.
Können Sie trotzdem zwei Arbeiten hervorheben, die eine besondere Bandbreite zum Ausdruck bringen?
Bischof: Sehr gerne. Die Eröffnungsproduktion „Private Song“ halte ich für unbedingt empfehlenswert. Alexandra Bachzetsis ist eine Vertreterin des kunstnahen, zeitgenössischen Verständnisses von Performance, wiewohl der Tanz, der Körper, die Person immer explizit im Zentrum stehen. Bachzetsis untersucht auf der Bühne die Rolle der Frau, des Selbstbildes, arbeitet dabei auf einzigartige Weise mit popkulturellen Elementen. Ruth Childs finde ich interessant, weil sie als junge US-Schweizerin zwei verschiedene Hintergründe hat und mit ihrer eigenen Fantasie und Geschichte, aber auch dem Werk ihrer Tante, Lucinda Childs, arbeitet. Es ist sehr interessant, wie hier das Alte, Überlieferte kritisch weiterentwickelt, aber auch ernst genommen wird. Beides sind sehr performative Projekte, aber im Programm ist selbstverständlich auch der getanzte Tanz, der mit Choreografie Raum erobert und mit Bildern füllt, eindrücklich vertreten.
Länderschwerpunkte steigern die Bekanntheit der Künstlerinnen und Künstler eines Landes in einem anderen. Wen kennt man denn in der Schweiz eigentlich aus Österreich besonders gut?
Bischof: Zwei Ikonen sind die Künstlerinnen Florentina Holzinger und Doris Uhlich. Beide provozieren, wenn sie in der Schweiz auftreten, mit grossem Erfolg immer auch Diskussionen. Sie sind auch bei uns stilprägend, werden viel zitiert und als Vorbilder genommen.
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