Nach seinem erfolgreichen Debüt „Hool“ schenkt Philipp Winkler nun seinem Verlag zum 75-jährigen Jubiläum eine kürzere Erzählung. „Carnival“ besticht durch einen völlig anderen Ton und blickt einmal mehr in ein noch unbekanntes Milieu. Martin Thomas Pesl befragte den Autor telefonisch zu seinem neuesten Wurf.
Quasi ein Geburtstagsgeschenk an den Verlag sei dieser schmale Band mit einer Erzählung. Für diese unterbracht der 1986 geborene Wahlleipziger die Arbeit an seinem zweiten Roman. „Carnival“ schlägt einen melancholischeren Ton an als Philipp Winklers Debüt, doch gerade das unterstreicht das Talent dieses Schriftstellers mit einem Händchen für unverbrauchte Themen. Es geht um das fahrende Volk der Jahrmarkt-Schausteller und Zirkusvagabunden. In der Wir-Form beschreibt es seine glorreichen Zeiten und sein unweigerliches Ende in Zeiten der Online-Überladung mit Unterhaltung. Figurennamen wie Palmenmann und Butsch der Barbar und Begriffe wie Bölken oder Abbalgen suggerieren penible Recherchen in einen norddeutschen Idiolekt. Doch in dieser Hinsicht hat Philipp Winkler im Telefonat mit der Buchkultur eine Überraschung parat.
Herr Winkler, der Verlag legt Wert darauf, dass „Carnival“ nicht als Ihr zweiter Roman bezeichnet wird. Wie kommt das?
Philipp Winkler: Als Aufbau an mich herantrat und fragte, ob ich für das 75-jährige Verlagsjubiläum etwas machen möchte, war ich bereits an meinem zweiten Roman dran, und die Arbeit ging ... na ja, „schleppend voran“ wäre noch nett ausgedrückt.
Schreibblockade?
Nein, ich finde, Schreibblockaden gibt’s nicht wirklich. Die sind nur eine Ausrede, die sich Autorinnen und Autoren zurechtlegen und die ich für mich nicht gelten lasse. Ich hatte mich gegen eine Wand gearbeitet und sah die Einladung von Aufbau als eine Chance, mal für ein paar Monate aus dem Roman rauszukommen. Auch das Medium Novelle hat mich gereizt. Welcher Verlag nickt denn heute im deutschsprachigen Literaturbetrieb eine Novelle ab? Die verkauft sich normalerweise auch nicht, die Leute wollen ihre dicken Romane lesen.
Wie kamen Sie dann auf das Thema Kirmes?
Ich stieß auf einen Artikel über das Verschwinden der Sprache der carnival people in den USA. Darin wurde auch die Veränderung dieser ganzen Subkultur der carnies und freaks beschrieben. Das fand ich sehr fruchtbar. Besonders mit dem Aspekt dieses eigenen Idioms wollte ich mich näher befassen.
In Ihrem Buch wirken die Charaktere und Ihre Ausdrucksweise wie deutscher Slang. In Wahrheit sind „der Holmirma“ für einen Laufburschen oder „die Erstmeier“ für Neulinge also Übersetzungen Ihrerseits aus dem Amerikanischen?
Ja, dieses amerikanische Ding fasziniert mich. Egal, was die Amerikaner machen, es ist immer aufs Ultimo hochgedreht. Ich habe mir das Vokabular der Carny-Sprache vorgenommen – alles, was ich an Slang-Begriffen irgendwie finden konnte – und für die Novelle gewissermaßen übersetzt, natürlich nicht direkt, sondern so, dass es der Atmosphäre, die ich im Text angepeilt habe, entsprach.
Was hat es mit der Geheimsprache der Kirmser auf sich, die Sie Kzirms nennen?
In echt heißt sie Carny oder manchmal, mit eingefügtem z, Czarny. Diese Sprache wurde erfunden, um sich über die Besucher hinweg zu unterhalten. Anfang des 20. Jahrhunderts, als die carnivals oder state fairs in den USA begannen, gab es noch viele gezinkte Spiele. Die Geheimsprache diente gezielt dazu, die Leute zu verarschen.
Ist die erstaunliche Religiosität der Figuren in Ihrem Buch auch ein Überbleibsel aus dem Amerikanischen?
Der Text selbst endet ja mit dem Kirmser-Gebet. Das habe ich direkt von einem überlieferten carny prayer übernommen. In den USA gehen die Leute ganz anders mit Religion um als hier. Sie hat einen anderen Stellenwert und manifestiert sich in allerlei Ritualen im Alltag.
Ihr erfolgreiches Romandebüt „Hool“ wurde mehrfach übersetzt, auch ins Englische. Bei „Carnival“ könnte das schwieriger werden, da die Sprache selbst eine Art Übersetzung aus einem bestimmten Milieu darstellt. Können Sie es sich dennoch vorstellen?
Puh, darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht! Ich würde mich natürlich freuen, wenn sich jemand dransetzt. Würde man den Text dann ins Original-Carny zurückübersetzen oder wäre es eine Art stille Post, bei der jede weitere Etappe ihn weiter verfremdet? Das könnte eine spannende Aufgabe sein.
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