Die große Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker, 60, eröffnet die Wiener Festwochen „reframed“ mit der Uraufführung eines Bach-Solos. Ein Gespräch über Krisen und ihre Ehe mit dem Tanz
Der Profitanz ist wie der Spitzensport normalerweise ein eher kurzes Vergnügen. Ab einem gewissen Alter spielt der Körper nicht mehr mit. Deshalb gibt es wohl nicht viele zeitgenössische Tänzerinnen, die behaupten können, etwa alle zwanzig Jahre ein Solo für sich selbst choreografiert zu haben. Gut möglich, dass Anne Teresa De Keersmaeker die einzige ist.
Ihre Karriere begann in den frühen Achtzigerjahren mit dem Solo „Violin Phase“ zu Musik von Steve Reich. 2002 kehrte die belgische Choreografin, Kompanie-Direktorin und Schulleiterin mit „Once“ alleine auf die Bühne zurück. Die verschobene und verkürzte Ausgabe der Wiener Festwochen 2020 eröffnet sie am 26. August in der Halle E im Museumsquartier mit der Uraufführung von „Die Goldberg Variationen, BWV 988“ zur Musik ihres Lieblingskomponisten Johann Sebastian Bach.
Auf Bildern sieht man De Keersmaeker meist hochkonzentriert und mit ernstem Blick. Das spiegelt sich auch im Telefonat mit dem Falter wider. Kein Wunder, Klimawandel und Corona-Pandemie haben der Starchoreografin sehr zugesetzt. Nur auf die Frage, wie es sein könne, dass ihr Kollege Akram Khan sein letztes Solo mit 45 machte und sie ihres mit 60, antwortet sie: „Ich kann nicht beurteilen, wie fit Akram ist.“ Da meint man kurz, ein Lächeln zu hören.
Falter: Frau De Keersmaeker, Sie waren mit Ihrer Kompanie Rosas oft Gast des Impulstanzfestivals unter Karl Regensburger. Seit Christophe Slagmuylder die Wiener Festwochen übernommen hat, sind Sie plötzlich Festwochen-Künstlerin. Finden Sie das seltsam?
Anne Teresa De Keersmaeker: Ich möchte die Gelegenheit nutzen, Karl Regensburger meinen Dank und Respekt dafür auszusprechen, wie er über die Jahre unsere Beziehung zu Wien und dem österreichischen Publikum aufgebaut hat. Die Zeiten sind hart, Veranstalter und Produzenten müssen ihr Revier verteidigen. Das ist bedauerlich. Mit Christophe verbindet mich eine lange Beziehung durch das Kunstenfestival in Brüssel, das er zuvor geleitet hat. Dass wir letztes Jahr die „Brandenburgischen Konzerte“ und heuer die „Goldberg Variationen“ bei den Festwochen zeigen, hat auch mit den Umständen seiner kurzfristigen Bestellung nach Wien zu tun. Ich sehe es nicht als Verrat. Ich hoffe, Impulstanz geht es genauso.
Im Ankündigungstext zu Ihrer Performance steht, Sie hätten für „Die Goldberg Variationen“ einen „signature move“ entwickelt. Können Sie diesen charakteristischen Tanzschritt beschreiben?
De Keersmaeker: Nein, das kann ich nicht. Aber Folgendes kann ich sagen: „Die Goldberg Variationen“ sind meine Goldene Hochzeit mit meinem Partner, dem Tanz. Ich bin jetzt 60, und als ich zehn war, begann meine Beziehung zum Tanz als Art, mich zu bewegen, zu denken, zu atmen und zuzuhören. Der Tanz ist meiner DNA eingeschrieben, meinem Blut und meinen Knochen.
Es ist auch Ihre fünfte Arbeit mit dem Werk von Johann Sebastian Bach (1685–1750), aber Sie sind nicht die Einzige, die sich choreografisch damit auseinandersetzt. Wieso ist dieser Barockkomponist so tanzbar?
De Keersmaeker: Die Musik nimmt einen praktisch bei der Hand und fordert einen zum Tanzen auf. Das hat damit zu tun, wie die Harmonien organisiert sind. In Bachs Werk gibt es Vertikalen und Horizontalen, das ist geradezu architektonisch. Ich höre immer wieder, ich solle mich mal mit was anderem beschäftigen, aber ich glaube nicht, dass ich Bach verlassen kann. Das ist jetzt mein fünftes Rendezvous mit ihm. Alle erdenklichen menschlichen Emotionen finden sich in seiner Musik wieder, dazu ein Stück Unendlichkeit: Sie könnte immer schon dagewesen sein und ewig weitergehen.
Bach schrieb die „Goldberg-Variationen“ zu einem späten Zeitpunkt in seinem Leben, als er befürchtete, seine Musik könne nicht mehr modern sein. Spiegelt sich in Ihrer Beschäftigung mit dem Spätwerk auch eine solche Angst?
De Keersmaeker: Es ist keine Angst, es ist ein natürlicher Prozess. Gerade wenn man die Ereignisse der letzten sechs Monate betrachtet, haben wir, glaube ich, andere Sorgen als nicht modern zu sein. Bach hatte sein Handwerk zur Vollkommenheit gebracht und begann, eine Verbindung mit etwas Spirituellem jenseits von sich aufzubauen. Seine Werke unterzeichnete er mit „Soli Deo gloria“: „Gott allein sei die Ehre“.
Erzählen Sie uns von Pavel Kolesnikov, dem Pianisten, der Sie begleiten wird!
De Keersmaeker: Ich wollte mit jemand Jungem arbeiten, denn der Organist Goldberg, für den Bach sein Stück angeblich schrieb, war auch ein Jungtalent. Pavel kommt eher aus dem romantischen Repertoire, er hat ein Album mit Chopin-Mazurkas veröffentlicht. Es wird das erste Mal sein, dass er Bach live spielt. Über eineinhalb Jahre haben wir uns regelmäßig getroffen. Während des Lockdowns mussten wir Zoom verwenden, aber als wir das erste Mal physisch zusammen proben konnten, war das eine höchst fruchtbare Fusion.
Mit ihrer Kompanie Rosas machen Sie oft große Gruppenstücke. Dass Sie jetzt nach 20 Jahren erstmals wieder ein Solo planten, war angesichts des Lockdowns wohl ein Glück. Haben Sie in Brüssel ständig weitergeprobt?
De Keersmaeker: Ich war buchstäblich komplett allein. Es erfordert große Disziplin, sich als Leiterin von seiner Kompanie abschotten zu müssen, aber es hat auch etwas Friedliches, es schärft den Fokus. Ich konnte eine Bewegungssprache für mich selbst entwickeln. Bald darauf kam aber meine Dramaturgin hinzu. Auch sie war zuerst nur über Zoom zugeschaltet, dann aber durfte sie nach Brüssel kommen. Der Proberaum hier ist sehr groß, wir konnten Abstand halten.
Was bedeutet die Pandemie für den Tanz?
De Keersmaeker: Sie trifft die DNA unserer Praxis. Alles ist anders. Viele der Vorstellungen von Rosas wurden abgesagt. Wir leben vom Live-Auftritt als Teil einer Marktlogik, die ganz anders ist als in der bildenden Kunst, wo man spekulieren kann, kaufen und verkaufen. Im Tanz gibt es so viel Arbeit, die immer wieder und wieder gemacht werden muss. Aber wir trauern nicht nur um unsere Praxis, sondern auch um das, was uns als Menschen ausmacht. Die Zukunft ist extrem unsicher, weil die eigentliche Ursache des Problems nicht behandelt wird.
Mehr im Falter 34/20