Je suis Fassbinder – Werk X Wien – Amina Gusner deeskaliert Falk Richters Tiraden
Wien, 3. Mai 2019. Es ist ein ungeschriebenes Bühnengesetz, Tausende Male eingehalten: Wenn in die Musik hinein jemand frustriert: "Aus! Aus! Aus!" ruft, dann tritt, mit kurzer Verzögerung, Stille ein. Wenn nicht, wie hier, dann ist das schier unerhört, dann muss das Theater aus den Fugen sein. Martin Hemmer kann noch so oft "Aus!" kommandieren, Andreas Dauböck spielt die begonnene Nummer zu Ende. Am Multiinstrumentalisten, der abseits der Bühne von heimeligen Lampenschirmen umgeben sicher hinter seinem Schlagzeug sitzt, verpufft die selbstbehauptete Autorität von Hemmers Figur Stan. Diese Autorität meint er zu haben, weil er hier so etwas wie der Autor/Regisseur ist, und mehr noch, weil er sich zu niemand geringerem als dem großen Rainer Werner erklärt hat: "Je suis Fassbinder".
Inspiration: "Deutschland im Herbst"
Wir erleben Falk Richters Stück ebendiesen Titels, das er unter dem Eindruck der Ereignisse in Köln an Silvester 2015/16 fürs Théâtre National de Strasbourg entwickelte (die Vornamen einiger dortiger Schauspieler*innen finden sich auch noch im Personenregister der deutschen Fassung). Seine wütenden Monologe zu Gegenwartspolitik und -gesellschaft verflicht Richter hier mit Streitgesprächen und Fassbinder-Zitaten. Inspirationsquelle, Dreh- und Angelpunkt ist der Moment im semidokumentarischen Film "Deutschland im Herbst" (1978), als der cholerische RWF seine Mutter Liselotte Eder dazu bringt, sich einen autoritären Herrscher zu wünschen, "der ganz gut ist und ganz lieb und artig".
Im Wiener Werk X inszeniert Amina Gusner die österreichische Erstaufführung. Die bisher Richter-unerfahrene Regisseurin geht den bei dessen Texten eher ungewohnten Weg der Entschleunigung, sozusagen einer Deeskalation auf der Richter-Skala. Die typischen Hineinsteigerungstiraden haben sie und Dramaturgin Hannah Lioba Egenolf reduziert, die meisten Politiker*innennamen gestrichen. In den Vordergrund tritt stattdessen die im Original eher sekundäre Theater-im-Theater-Ebene. So erzählt Gusner unverhofft eine höchst unterhaltsame Tragikomödie vom Kunstmachen in heutigen Krisenzeiten. Pollesch trifft "Der nackte Wahnsinn", aber in Moll und trotzdem lustig.