In meinem 2016 erschienenen „Buch der Schurken“ versammelte ich 100 der genialsten Bösewichte der Weltliteratur in einem Minilexikon. Einige blieben dabei auf der Strecke. Schändlicherweise. Hier begleiche ich nach und nach die schurkische Schuld.
Wenn man Gaston Leroux überhaupt kennt, dann als Autor der Romanvorlage zum Musical „Das Phantom der Oper“ – und auch hier denken viele, das habe Andrew Lloyd Webber erfunden. In Wirklichkeit wäre Leroux dafür zu rühmen, dass er das Genre der Locked-Room-Mystery geprägt und damit anglophonen Granden der Unterhaltungsliteratur wie John Dickson Carr, Arthur Conan Doyle und ein klein bisschen Agatha Christie den Weg geebnet hat (die Queen of Crimefreilich ging es entspannter an und sparte sich meist das bei entdeckter Leiche zum Himmel geschriene pathetische „Es ist unmöglich!“).
Es ist wirklich ein Jammer, dass dieses Subgenre des Krimis, das handwerkliche Meisterschaft erfordert, in Zeiten von DNA-Analysen und Leserschwund kaum noch eine Chance hat: Verbrechen, deren technische Ausführung auf den ersten Blick nur übersinnlichen Kräften möglich scheint, typischerweise weil sich das Opfer in einem von außen verschlossenen Raum ohne Fluchtmöglichkeit befindet. Der Pariser Reporter Gaston Leroux schien dafür aus seiner journalistischen Praxis zu schöpfen. In Lerouxs ersten Romanen „Das Geheimnis des gelben Zimmers“ (1907) und „Das Parfum der Dame in Schwarz“ (1908) spürt sein Alter ego, der 18-jährige Joseph Rouletabille, diversen scheinbar unmöglichen Situationen nach und dröselt sie schließlich, wie später Holmes oder Poirot, zum allgemeinen Erstaunen auf. Begangen wurden sämtliche Morde und Beinahe-Morde vom Meisterdieb Ballmeyer, nur dass das am Ende des „Zimmers“ eine große Überraschung darstellt, während es im „Parfum“ darum geht, zu entschlüsseln, als welcher der Anwesenden sich Ballmeyer verkleidet hat. Komplex? Ja, sogar kompliziert, aber im Übrigen kein Spoiler für Neugierige: Wer Ballmeyer ist, wird hier natürlich nicht verraten.
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