Es war das Festival, von dem alle nachher sagten, man hätte ihm doch mehr Aufmerksamkeit widmen sollen. „Real Deal – Behördlich genehmigtes Festival für falsche Zustellungen“ hieß es, und alles daran klang neu und aufregend, als während der Wiener Festwochen 2016 plötzlich kundgetan wurde, dass, wo, wann und ungefähr wie es stattfinden würde. Allein der Spielort, ein noch nie zuvor bespieltes Areal, dem gleich ein visionärer Name verliehen wurde: Neues Hafengelände! Dann die Ansage, einen Mix aus Musik, Performance und Ausstellung zu bieten, alles sollte nahtlos ineinanderfließen – fast zu schön, um wahr zu sein. Dennoch fragte man dann ganz und brav und bieder nach, wann genau welche Bands, wann welche Performancegruppen aufspielen würden. Zwei Wochenenden Mitte Juni und Anfang Juli waren vorgesehen, dazwischen ein Pausenwochenende, an dem es aber trotzdem zu unangekündigten „falschen Zustellungen“ kommen konnte – vielleicht, vielleicht auch nicht. Das hörte sich so herrlich zwanglos an, dass manche dann doch darauf vergaßen, tatsächlich hinzugehen.
Wer doch da war – zum Beispiel gerade noch rechtzeitig am letzten Wochenende –, äußerte sich weitgehend begeistert, vor allem, da die organische Verschmelzung von Raum, Menschen, Kunst und Musik verblüffend gut klappte, ohne dass der Eindruck entstand, irgendjemandem in leitender Funktion – verantwortlich zeichneten das Kollektiv God’s Entertainment, Peter Kubin und Johannes Maile – bereite das einen besonderen Stress. Maile etwa war am Eingang an einem Glücksrad zu sichten, wo er Ankommende darum spielen ließ, wie viel Eintritt sie zahlen sollten. Als ein junger Mann nicht besonders gut abschnitt, ließ er ihn trotzdem um einen Fünfer rein.
Geld schien ausnahmsweise tatsächlich keine große Rolle zu spielen. Das Festival wurde aus der ersten Shift-Förderung finanziert, die die Kulturabteilung der Stadt Wien für drei Jahre vergeben hatte. Hauptverantwortlich für den luxuriösen Eindruck war das weitläufige „Neue Hafengelände“, riesige ehemalige ÖBB-Lagerhallen an der Laxenburgerstraße hinter dem Wiener Hauptbahnhof. Selbst mit Kunstwerken, Installationen und einer Bar bunt befüllt wirkten sie noch immer weit und großzügig.
Ebenfalls großzügig, wenn auch ein wenig mit der von ihnen thmatisierten faschistoiden Ordnungswut kokettierend, führten Maja Degirmendzic und Boris Ceku von God’s Entertainment in unregelmäßigen Abständen durch ihre Ausstellung „Entartet 2018“ – es gab dafür zwar fixe Termine, die konnten jedoch nach Belieben verschoben werden, und niemand stieß sich daran oder hatte Angst, sie verpasst zu haben. Hauptsache, man schaffe es noch pünktlich bis Keith Hennessy – jaja, das gehe sich auf jeden Fall aus.
„Entartet 2018“ war eine pessimistische Reflexion auf ein Österreich in wenigen Jahren, in dem die Freiheit der Kunst anders interpretiert wird als noch heute. Die performative Führung fügte den mächtigen Werken – einem riesigen Bundesadler, dessen einst gesprengte Ketten ihn wieder gefangen halten, eine Statue, die möglicherweise Kafka zeigt, viel, viel Erde, einem „Schmissautomaten“ und einer gigantischen Österreichkarte mit neu (aber auch mit Blick auf die Zeit vor 1945 alt) verlaufenden Grenzen – wenig inhaltlich hinzu. Auch der „Apotheker“, der einem zwischendurch Patriotismuspillen anfertigen sollte, war sofort irritiert, wenn man weiterführende hintergründiger Pointen von ihm erwartete. Dafür bekam man die Pille mit einem spirituösen Stamperl verabreicht und war erleichtert, nachher keinen Deut patriotischer zu sein als vorher.
Wer wollte, konnte sich im Ausstellungsraum hochinteressante Audiobeiträge zur Lage der Kunst in anderen, vorwiegend osteuropäischen Ländern anhören – sofern nach der Führung noch Zeit blieb. Zu deren krönendem Abschluss jedenfalls öffnete sich, begleitet von peitschender Kriegsfilmmusik, ein Garagentor, und man erhielt Gelegenheit, Showcase Beat Le Mot mit Paintballgewehren zu beschießen. Die vier Männer der kultigen deutschen Performance-Formation reaktivierten damit ihre Arbeit „Jäger“ aus dem Jahr 2000, mit der sie damals unter anderem auch als Vertreter Österreichs (!) die Expo in Hannover bespielt hatten.
In die „Entartet“-Führung fügte sich „Jäger“ hübsch unkompliziert ein. Zuvor hatte Dariusz Kostyra von Showcase die Kollegenschaft mit God’s Entertainment so ausgedrückt: „Die hassen Sprechtheater und alles, was auf einer Bühne stattfindet, und finden uns trotzdem gut. Wir hassen Public-Dings-Theater und mögen sie trotzdem.“
Eine durchaus augenzwinkernde Zusammenkunft von Freunden und Freundinnen zu sein, diesen Aspekt der Entspanntheit strahlte das Real Deal natürlich auch aus – ohne deshalb eigenbrötlerisch oder exklusiv rüberzukommen. Nach der Führung holte man sich das nächste Bier, kaufte Laia Fabre einen Glückskeks ab, aktivierte eine lebende Jukebox oder wandelte über den Arbeiterstrich – ein Kirtag der experimentellen Kunst. Vom Hörensagen wusste man, in welchem Planquadrat Keith Hennessys Performance stattfinden würde. Sie begann dann woanders, aber man fand sich irgendwie zusammen.
Der kanadische Performer, der im Sommer auch Gast bei bei ImPulsTanz sein sollte, zeigte seine Arbeit „Crotch“ aus dem Jahr 2008 – eine famos wirre Lecture über die Geschichte der Performance-Kunst, die sich in weiterer Folge zu einer intensiven Hommage an Joseph Beuys verdichtete. Am Ende fand man sich anderen Publikumsmitgliedern einen Faden weiterreichend, den Hennessy sich an die eigene Haut genäht hatte. In den berühmten beuysschen Filzumhang gekleidet wanderte er schließlich von dannen, verschwand im Dunkel der Nebenhalle und kehrte nicht wieder, um sich Applaus abzuholen. Er war ja auch nur ein schier zufälliger Programmpunkt im behördlich genehmigten Festivalflow.