Das Theater: Nach dem Tod des deutschen Theatermachers Einar Schlief wurde Nicolas Stemann ab 2003 zum wichtigsten Regisseur für Elfriede Jelinek. Er führte auch das Format der „Urlesung“ ein
Niemand hat so viele Theatertexte von Elfriede Jelinek aus der Taufe gehoben wie Nicolas Stemann: zehn Uraufführungen waren es vom poppigen „Werk“ 2003 im Akademietheater bis zur kraftvollen vierstündigen „Wut“ 2016 an den Münchner Kammerspielen. Anstelle von Einar Schleef, dem Regisseur der als legendär geltenden Zusammenarbeit „Ein Sportstück“ (1998) am Burgtheater, der eine zweite Zusammenarbeit nicht mehr erlebte, wurde der deutlich jüngere Stemann (Jahrgang 1968) zum wichtigsten Regisseur für sie.
Vergangenen Freitag hat Nicolas Stemann an den Münchner Kammerspielen eine Urlesung des aktuellen Stands von Jelineks Flüchtlingstragödie „Die Schutzbefohlenen“ eingerichtet. Das 2014 – auch von Stemann – uraufgeführte Werk verarbeitet vor allem die Proteste der Refugees-Bewegung in der Wiener Votivkirche 2012. Als Reaktion Entwicklungen in der Flüchtlingspolitik erweitert es die Autorin immer wieder um Anhänge. Das gesamte Ensemble des Theaters, 35 Mitarbeiter von Intendanz bis Kassa, eine Gruppe geflohener Schauspieler des im Umfeld der Kammerspiele entstandenen „Open Border Ensembles“ und Freiwillige aus dem Publikum lasen je eine der 144 Seiten. Das Happening dauerte, wie von Stemann zuvor prophezeit, exakt sieben Stunden und zwölf Minuten.
Falter: Herr Stemann, Sie haben das Format der „Urlesung“ für Jelinek-Texte eingeführt. Wie war die bisher letzte Urlesung am Freitag?
Nicolas Stemann: Ein Erlebnis, wie immer. Auch wenn ich mich zwischendurch oft frage: Was tun wir hier eigentlich? Aber das Tolle ist: Als Prima-vista-Lesender muss man nicht verstehen, was man da sagt, dafür wird der Text fürs Publikum viel verständlicher, wenn man ihn kollektiv und laut liest, als wenn man ihn leise vorbereitet und sich in Einzeldifferenzierungen verhakt.
Stimmt es, dass Elfriede Jelinek und Sie – wie in Roland Kobergs und Verena Mayers Buch „Elfriede Jelinek – Ein Porträt“ angedeutet – bei Ihrem ersten Treffen vor allem über Mode geredet haben?
Stemann: Es war ein erstes Bindeglied. Ich hatte ganz andere Erwartungen an diese Person, ich dachte, sie sei kompliziert und unzugänglich, und war dann überrascht von ihrer Lockerheit. Das Burgtheater hatte mir „Das Werk“ angeboten, und ich hatte das Gefühl, ich kann das nicht, das hat nichts mit mir zu tun, mit all den Chören ist es eindeutig für Einar Schleef geschrieben. Zum Treffen kam ich in meiner Trainingsjacke aus dem Second-Hand-Laden und sie in einer ähnlichen, aber von Helmut Lang. Wir sahen also schon mal ähnlich aus, aber nicht gleich, und das charakterisiert seither unsere Beziehung sehr gut. Am Ende schlug sie mir vor, trotz meiner Bedenken zuzusagen, und gab mir alle Freiheiten, mit Ihrem Text umzugehen. Sie sagte: „Sie dürfen mich auch verarschen.“
Mehr im Falter 41/16