Anne Frank
Tagebuch
Fassung von Otto H. Frank und Mirjam Pressler
Deutsch von Mirjam Pressier
S. Fischer, € 8,20
Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal aus den Niederlanden: das meistgelesene Tagebuch der Welt.
“Das halte ich nicht aus, wenn so auf mich aufgepaßt wird, dann werde ich erst schnippisch, dann traurig, und schließlich drehe ich mein Herz wieder um, drehe das Schlechte nach außen, das Gute nach innen und suche dauernd nach einem Mittel, um so zu werden, wie gern sein würde und wie ich sein könnte, wenn ... wenn keine anderen Menschen auf der Welt leben würden. Deine Anne M. Frank”
Und aus. Mit diesen Sätzen endet am 1. August 1944 der letzte Eintrag im Tagebuch einer 15-Jährigen. Drei Tage später wird das Hinterhaus in Amsterdam, in dem sie und ihre Familie sich fast zwei Jahre lang vor den Nazis versteckt hielten, geräumt und die Jüdin Anne Frank ins Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht. Dort stirbt sie – vor 70 Jahren, irgendwann im März 1945, wenige Wochen bevor der ganze Horror sowieso endet. Das Tagebuch wird von einer Helferin, die der Verhaftung entgeht, aufbewahrt, die es später Annes Vater Otto übergibt. Der wiederum weiß, dass seine Tochter gerne Schriftstellerin geworden wäre, und macht daraus einen der weltweit größten Bucherfolge – in weiterer Folge aber auch die am meisten kommerziell verwertete Opfergeschichte aus dem Zweiten Weltkrieg.
Das Faszinierendste an Kitty, wie die junge, aus Deutschland ausgewanderte Wahlniederländerin ihr Tagebuch adressierte, ist dabei gar nicht so sehr, dass darin ein Teenager die politischen Geschehnisse in den besetzten Niederlanden mit erstaunlicher Reife schildert. Die Alltagsbeschreibungen und der ganz normale Wahnsinn des Erwachsenwerdens bilden das verblüffende Zeitdokument – natürlich im ständigen Bewusstsein, dass draußen Gefahr lauert und es jederzeit vorbei sein könnte. Auch sexuelle Fantasien schildert Anne, die einen ebenfalls sich versteckenden Jungen namens Peter, aber durchaus auch Frauen betreffen. Dazu reges Treiben, oft schlechte Stimmung im Versteck, manchmal aber auch schöne Überraschungen wie Weihnachtsgeschenke. Schon die Regelmäßigkeit, mit der sie sich ihrer Kitty zuwandte, kann manch einem Möchtegern-Tagebuchschreiber als Vorbild dienen, der entweder nichts erlebt und daher viel Zeit zu schreiben hat oder eben vor lauter Leben nicht zum Schreiben kommt.
Interessant ist auch, dass Anne das Tagebuch zwar für sich selbst schrieb und niemand ihre Aufzeichnungen lesen durfte, sie ihren Mitbewohnern aber dennoch Pseudonyme verlieh. War es für den Fall, dass die Nazis die Texte fanden? Oder wohl doch mit Hinblick auf eine literarische Ebene? Bei allem tragischen Ende ist Anne Franks Tagebuch doch ein wunderbares Beispiel, wie Geschichte und Geschichten zusammentreffen.
KURZES LEBEN, LANGER ATEM
Anne Franks Geschichte lebt auf unterschiedlichste Arten weiter
Erben
Buddy Elias war Anne Franks letzter noch lebender Verwandter, ein Cousin ersten Grades. Er starb im März 2015. Vor der Pensionierung hatte er hauptberuflich als Clown und Schauspieler gearbeitet und dann ehrenamtlich das Erbe der Anne Frank in Form eines Fonds verwaltet, mit dem Ziel, dass keine Fälschungen auftauchen und Lizenzen für Adaptionen vergeben werden.
Haus
Mit dem Anne-Frank-Fonds zerkracht ist die Anne-Frank-Stiftung. Diese betreibt das Originalhaus in Amsterdam, in dem der Großteil des Tagebuchs entstand, als Museum mit neun Euro Eintritt – angeblich gegen den Willen der Erben, die mit diesem Ort des Verrats nichts mehr zu tun haben wollten.
Filme
Die Internet Movie Database verzeichnet 32 Verkörperungen von Anne Frank in Film, Fernsehen und einem Videospiel (!). Mit drei Oscars gekrönt war gleich die erste Verfilmung 1959, einer davon ging an Shelley Winters als Mitbewohnerin Frau van Daan. Eine neuere, eher kuriose Ausformung des Anne-Frank-Kults ist die deutsche Schauspielerin Franka Potente, die in Staffel zwei der US-Serie „American Horror Story“ eine Wahnpatientin, die sich für Anne Frank hält. Der Israeli Ari Folman arbeitet an einem Animationsfilm.
Multimediashow
Zynismus pur: In Kombination mit einem Zwei-Gänge-Menü und/oder einer Snackbox kann man sich in Amsterdam „Anne“ ansehen, in einem modernen Theater mit Leinwand und Spektakel. Schließlich könnte man ja Hunger kriegen, in drei Stunden. In Leon de Winters Bühnenfassung wird spekuliert, was wäre, wenn Anne Frank überlebt hätte. Eine ganz frühe Theaterversion, die fast gleichzeitig mit dem Tagebuch herauskam, gilt als „Standardversion“.
Gerichtsverfahren
Hitlers Tagebücher entpuppten sich legendär als Fälschung. Ein paar hartnäckige Rechtsextremisten wollten Ähnliches über das Tagebuch der Anne Frank gewusst haben (ihr Vater habe es selbst geschrieben) und strengten forensische Prüfungen an. Ohne Erfolg: Seit 1998 ist es in den Niederlanden sogar verboten, die Echtheit des Dokuments anzuzweifeln.
FRANK UND FREI
„TOLLE BERICHTE!“ – Anne Frank schreibt heiter aufs Erwachsenwerden hin
“Zum Schluß dieser Kuddelmuddelmitteilungen noch einen besonders komischen Witz, der von Herrn van Daan stammt: Was macht 999 mal klick und einmal klack? Ein Tausendfüßler mit einem Klumpfuß! Tschüs, Deine Anne”
“Liebe Kitty! Pim erwartet jeden Tag die Invasion. Churchill hat eine Lungenentzündung gehabt, aber es geht ihm langsam besser. Gandhi, der indische Freiheitskämpfer, hält seinen soundsovielten Hungerstreik.”
“Gandhi ißt wieder.”
“Es hat mich viel, viel Kampf und Tränen gekostet, so selbständig zu werden, wie ich es jetzt bin. Du kannst lachen und mir nicht glauben, es macht mir nichts. Ich weiß, daß ich ein eigenständiger Mensch bin, und ich fühle mich euch gegenüber absolut nicht verantwortlich.”
“Nun werde ich hoffnungsvoll, nun endlich geht es gut. Ja, wirklich, es geht gut! Tolle Berichte! Ein Mordanschlag auf Hitler ist ausgeübt worden, und nun mal nicht durch jüdische Kommunisten oder englische Kapitalisten, sondern durch einen hochgermanischen deutschen General, der Graf und außerdem noch jung ist.”