Alain-Fournier
Der große Meaulnes
Deutsch von Cornelia Hasting und Otfried Schulze
Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal: Ein Traum von einem Buch – zum 100. Todestag seines Verfassers
“Meaulnes saß auf einem Pult, baumelte mit den Beinen und dachte nach. An witzigen Stellen lachte er mit, aber verhalten. Es war, als hätte er sein schallendes Lachen für eine bessere Geschichte aufgehoben, die nur er allein kannte.”
Die Liebe, ein Traum. Knapp bevor er, ein frühes Opfer des Ersten Weltkriegs, vor 100 Jahren starb, stellte Henri Alban Fournier unter dem Namen Alain-Fournier seinen einzigen Roman fertig. Mit dem „großen Meaulnes“ hatte der Franzose Mitte 20 Großes vor: An der Schwelle von Traum und Wirklichkeit wollte er dahingleiten und von der Tragik der Liebe, vor allem aber auch vom Schmerz vergangener Unbeschwertheit und Jugend erzählen. Und das alles wegen einer Frau.
Ebendies Große gelang ihm auch, vor allem durch seine traumwandlerische Erzählweise. Nie ist dem Leser so recht klar, welchen jungen Mann er als die eigentliche Hauptfigur ansehen darf: den Ich-Erzähler François Seurel, der in der Provinz Nordfrankreichs in die Klasse geht, die sein eigener Vater unterrichtet, oder dessen besten Freund, den zugezogenen Meaulnes, den eine Aura des Tragischen umgibt. Nachdem Meaulnes einige Tage verschwunden ist, kehrt er verändert zurück und erzählt François schließlich, warum: Er verlief sich und landete bei der dörflichen Hochzeitsgesellschaft eines gewissen Frantz. Dort geschahen zwei Dinge: Meaulnes verliebte sich unsterblich in Yvonne, die Schwester des Bräutigams. Und: Die Braut tauchte nie auf. Immer und immer wieder – letztlich über Jahre hinweg – versuchen die beiden Jünglinge nun, diesem magischen Ort, dem surrealen Ereignis und der unvergesslichen Yvonne auf die Spur zu kommen. Dass das nicht so leicht klappt und Meaulnes letztlich davontreibt auf eine düstere Reise, ist nicht das Bittersüßeste, das hier noch passiert.
Dieser Roman, einzigartig in der Literaturgeschichte, wirkt wie im Rausch hingeschrieben, entfaltet sich aber dennoch mit großem Sinn für Tragik und manchmal ein bisschen verheult, aber nie mit dem großen, klebrigen Pathos. Wie ein Traum rutscht auch die Erzählweise immer wieder subtil ins Surreale: Kinder scheinen plötzlich das Sagen zu haben wie Erwachsene; Mitschüler wirken zum selben Zeitpunkt wie Freunde und Gegner; und bald schon runzelt man die Stirn: Wie zuverlässig ist dieser François eigentlich als Erzähler? Ist es nicht seltsam, dass der Autor die große Liebesgeschichte einem anderen gönnt, wo er sich doch selbst 19-jährig von einer realen Yvonne verzaubert einen Roman erträumte, der ganz allein von ihr handelte? Fest steht jedenfalls, dass dieses große Buch von viel mehr handelt als nur von einer Teenie-Love-Story.
ONE-HIT-WONDER
Alain-Fournier brauchte zur Größe nur ein einziges Buch. Wer noch?
Margaret Mitchell
Ihr aus Langeweile im Krankenbett geschriebener Südstaatenwälzer reichte Margaret Mitchell zu Ruhm, Pulitzer-Preis und Reichtum, schon weil sie gleich einmal die Filmrechte teuer verkaufen konnte. Danach arbeitete sie nur noch für wohltätige Zwecke und half im Krankenhaus aus. Ein Manuskript zu einem zweiten Roman wurde erst 46 Jahre nach ihrem Tod zufällig gefunden.
Anne Frank
Nun gut, Anne Frank als One-Hit-Wonder zu bezeichnen ist zynisch. Unfreiwillig ist sie jedoch eines. Unfreiwillig, weil sie womöglich nie Schriftstellerin geworden wäre, sondern schlicht ein persönliches Tagebuch führte. Und weil bekanntlich ihr Ende (und das Ende des Tagebuchs) darin bestand, dass die Nazis sie ins KZ brachten und dort ermordeten. Von ihrem Vater im Nachhinein zögerlich veröffentlicht, gehören Anne Franks Aufzeichnungen zu den beklemmendsten Dokumenten des Lebens unter dem Hitler-Terror.
M. Agajew
M. Agajew – wer oder was soll das denn sein? Lange Zeit dachten sie, Vladimir Nabokov hätte den „Roman mit Kokain“ geschrieben. Dann wurde im Lebenslauf eines sonst völlig unbekannten Russen namens Mark L. Levi der Hinweis auf seine Autorenschaft an dem Manuskript gefunden. 2012 erfuhr der abgefahrene Roman (oder alternativ übersetzt: die Romanze) eine Wiederbelebung, nicht nur auf Deutsch. In dem rasant geschriebenen Buch aus den Dreißigern geht es um die Kokserfahrungen eines selbstzentrierten und ziemlich unsympathischen Studenten.
Giuseppe Tomasi di Lampedusa
„Der Gattopardo“, der einzige Roman des Italieners wurde durch seine Verfilmung „Der Leopard“ durch Visconti einschließlich einer opulenten und nicht enden wollenden Ballszene berühmt. Tomasi parodiert in dem Buch seine eigene Familiengeschichte, er erzählt von einem Fürstenhaus im 19. Jahrhundert. Darüber hinaus schrieb er Erzählungen und forschte über Literatur. Der Ruhm kam erst posthum.
GROSSES – DIE TIEFE DER LANDSCHAFT
Ausbrüche von Glück und Schmerz bei Alain-Fournier.
“Und ich erinnere mich, wie ich in meiner plötzlichen Großmut auf die häßlichste der Notarstöchter zuging, der meinen Arm anzubieten, man mir manchmal als Strafe auferlegte, und wie ich freiwillig ihr die Hand reichte.”
“Nun verstehe ich erst, wir waren heimlich dort, um Kuchen und Likör zu stehlen. Ich bin enttäuscht wie jener Schiffbrüchige, der glaubte, mit einem Menschen zu sprechen und plötzlich erkannte, daß es ein Affe war.”
“Ich hatte nie lange Ausflüge mit dem Fahrrad gemacht. Dies war der erste. (...) Die Hügel hinuntersausen und in die Tiefe der Landschaft eintauchen; wie mit einem Flügelschlag die Ferne am Ende der Straße ergründen, die auseinanderweicht und erblüht, sobald man näherkommt, ein Dorf im Zeitraum eines Augenblicks durchqueren und es in einem Lidschlag ganz und gar mit sich fortnehmen...”
“Ihn überfiel die Furcht eines Bauern, eine heftige Abneigung gegen diese Stadtkirche, wo in versteckten Nischen alle Laster in Stein gehauen stehen, eine Kirche, die zwischen verrufenen Häusern errichtet wurde und kein Mittel hat gegen die reinsten Schmerzen der Liebe.”