„Man muss doch!“
Für das Magazin herbst – Theorie zur Praxis, das jährlich das Festival steirischer herbst in Graz und Umgebung begleitet, traf ich den ungarischen Kultregisseur Árpád Schilling. Seiner Company Krétakör, die am 17. und 18. Oktober in Bad Gleichenberg auftritt, geht es an den Kragen, während Schilling selbst als Opernregisseur durch Deutschland zieht
Vor knapp zehn Jahren war Árpád Schillings größtes Problem eine bürokratische Lächerlichkeit. Für seine Inszenierung Hamlet3 am Wiener Burgtheater wollte er, dass die Schauspieler in Privatkleidung auftreten. Ein radikaler Akt der Fokussierung: Nur drei Schauspieler, eine Art Boxarena als leere Bühne, und nicht einmal Kostümentscheidungen sollten der Verdichtung auf den Inhalt im Wege stehen. Die Burg war damit überfordert: Wie, kein Kostüm? Das geht doch nicht! Aus versicherungstechnischen Gründen mussten dann die Schauspieler dem Theater ihr Gewand verkaufen und trugen so Abend für Abend gleichzeitig ein Kostüm und kein Kostüm.
Dieses stadttheatrale First-World-Problem war 2005, und Schilling stand am Beginn einer steilen Regiekarriere im deutschsprachigen Raum. Die legt er auch nach wie vor hin; in Ungarn jedoch wurde seine legendäre Truppe Krétakör von der Regierung auf eine schwarze Liste gesetzt. Weil der norwegische Kohäsionsfonds die Institution ebenso wie eine Reihe anderer regierungsunabhängiger Organisationen der ungarischen Zivilgesellschaft förderte, möchte das Kabinett Viktor Orbán nun ermitteln, ob diese Gelder den NGOs dazu dienen, sich landesfeindlich zu verhalten. Sprich: die nationalkonservative Partei Fidesz zu torpedieren, die vom nicht-ungarischen Europa aus skeptisch bis ablehnend beäugt wird, weil sie mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit allzu bequem regiert.
Da hilft es freilich nicht, dass „die Partei“ auch titelgebend für Krétakörs aktuelle Theaterproduktion ist und darin kritisch beäugt wird. Die Partei, das klingt nach Apparat, nach Autokratie, das klingt vor allem nach Kommunismus, nach Kaltem Krieg. Etwas, das Ungarn lange Jahre hatte und jetzt wieder hat. Oder immer noch. Nur ohne das mit dem Kommunismus. Die Partei weiß genau, was sie tut. Sie weiß, wie sie – einmal demokratisch legitimiert – an der Macht bleibt. Und sie weiß, wie sie ihre Kritiker aushungert.
Dass es sich in diesem Fall bei den Betroffenen um die international bekannteste Theaterinstitution Ungarns handelt, ist aus Sicht der Regierenden sicher kein peinlicher Fehler, sondern eher ein Jetzt-erst-recht gemäß einer Logik, nach der Renommee im Ausland und Patriotismus einander widersprechen und letzterem selbstverständlich der Vorzug zu geben ist. Das Krétakör Színház, zu Deutsch Kreidekreis-Theater, hatte Schilling 1995 erst 21-jährig gegründet. Der Name bezieht sich auf den „kaukasischen Kreidekreis“ Bertolt Brechts, dessen Theorien Schilling schon immer auf mutige, direkte Weise in die Tat umzusetzen versuchte. Mit radikal auf Inhalte, Gedanken und Schauspiel reduzierten Aufführungen meist klassischer Dramen machte er rasch auch international auf sich aufmerksam, durfte in Frankreich inszenieren, wurde zu Festivals und ans Burgtheater eingeladen.
Für Ungarn, das Feld, das er eigentlich brechtisch beackern wollte, war ihm das aber nicht genug. Und so entschloss er sich zusammen mit seinem Weggefährten Márton Gulyás 2008 zu dem einzigartigen Schritt, die Radikalität von der Bühne ins Leben, in die Organisation zu verlagern. Man schloss das Theater und wandelte es, nun nur noch unter dem Namen Krétakör, in ein Produktionsbüro um, das mithilfe unterschiedlicher Medien die Gesellschaft von innen zu verändern versucht. Man ging an Schulen, vor allem auch abseits von Budapest, und veranstaltete „Gesellschaftsspiele“ auf einer Grundlage, die Menschen mit westlichen, „deutschen“ Theatergewohnheiten betreten die Stirn runzeln ließen: Didaktik. Erziehung. Den Teilnehmenden Zivilcourage und selbstständiges Denken beibringen. Bequeme Denkstrukturen aufbrechen, indem man sie ganz offen hinterfragt und auseinandernimmt. Das ist Theater, sagt Árpád Schilling.
Wozu Szenen spielen, wenn sie nicht ein Problem aufwerfen, wie im lateinamerikanischen Straßentheater oder in Boals Theater der Unterdrückten? Wozu etwas aufführen, wenn es nichts auszuführen gibt? So hat Krétakör etwa in Workshops mit einer Reihe von Jugendlichen eine Kampagne für eine Senkung des Wahlalters entwickelt. „Theater kreiert eine Bewegung“, erklärt Schilling. „Es ärgert, provoziert, stellt unbequeme Fragen, propagiert die Freiheit schon allein, indem es sich traut, frei zu sprechen. Das moderne Theater könnte aber noch weiter gehen, indem es als mutigeres Forum provoziert, die Zuschauer besser einbindet.“
In der Tat. Das Mitmachtheater, wie es vom aufgeklärten Dramaturgen bis zum verschüchterten Theaterbesucher alle fürchten – Árpád Schilling erhebt es zum Endziel eines Prozesses. „Schon Brecht hat das ja aufgeworfen: Wir sollen nicht nur fühlen, sondern auch nachdenken. Heutzutage könnte man sagen: Wir sollen nicht nur nachdenken, sondern ganz konkret anfangen zu sprechen. Das Theater kann dazu ein Werkzeug sein, ein Forum, in dem man auch Entscheidungen trifft.“
Wie, Entscheidungen? „Ich kann mir eine Aufführung vorstellen, aus der das Publikum hinausgeht und einen Satz, einen Gedanken gefasst hat, ein Manifest auf irgendeine Frage. Natürlich ist das eine enorme Erziehungsaufgabe: Der Zuschauer schaut eine Geschichte an und soll plötzlich etwas dazu sagen. Nicht über die künstlerische Darstellung, sondern davon ausgehend soll ihm etwas einfallen. Eine Diskussion soll beginnen, die wiederum von der anderen Seite professionell und geschickt moderiert wird. Ungarn hätte das bitter nötig. Aber es ist schwer herbeizuführen, weil der Zuschauer nix sagen will und weil es kaum hervorragende Schauspieler gibt, die gleichzeitig gute Moderatoren sind, deren Profession darin besteht, auf den Zuschauer zu achten.“
Dass das Geld fehlt, um sich solche Profis heranzuzüchten, ist geradezu klar. „Die Regierung ist sowieso dagegen, kritische Stimmen auszubilden. Und die Kunst, also die Festivals, wollen vor allem Ästhetik sehen.“ Versucht hat er es, aber es geht langsam voran. „Das ist nicht wie bei diesem ungarischen Witz: ,Herrscht hier im Dorf Antisemitismus?‘ – ‚Nein, aber eine Nachfrage danach wäre schon gegeben.‘ Die Schauspieler wollen keine guten Moderatoren sein, die Zuschauer fordern keine Aufführungen, bei denen sie mitreden.“
So wird der krétakör, der weiße Kreidekreis auf schwarzem Untergrund, in dem sich die Dinge durch nüchterne, neutrale, unabhängige Urteilsfindung entscheiden sollen, unfreiwillig zum Symbol für ein frustrierendes Sich-im-Kreis-Drehen. Auch in „Die Partei“ prangt er mahnend im Bühnenzentrum. Die neueste Bühnenproduktion von Krétakör hatte kurz vor den Parlamentswahlen im Frühjahr 2014 ihre Premiere in Budapest. Da war noch nichts mit schwarzer Liste, da ging es eher noch ganz allgemein um eine Gesellschaft mitten in Europa, die der Politik desillusioniert und entnervt den Rücken gekehrt hat. „Ich wollte mir Gedanken darüber machen, wie die Parteilichkeit überhaupt zur Herausbildung einer gut funktionierenden Gesellschaft beiträgt“, sagt Árpád Schilling. „Die Mehrheit der Menschen übergibt den Parteien alle Fragen von Macht und will sich selbst nicht damit beschäftigen. Das ist nicht nur innerhalb der Politik ein Problem, sondern das ganze Leben wird parteipolitisch, etwa auf der Ebene von Lehrer-Schüler-Verhältnissen. Sogar beim Einkaufen stellt es ein Problem dar: Wer ist Kunde, wer ist Diener, wer hat welche Rechte? Die, die den Kassenschlüssel, das Schwert in der Hand haben, sind der Chef, die haben die Macht, und das ist in Ordnung so.“
Seit der Premiere von „Die Partei“ gab es zwei Wahlen in Ungarn – die Parlamentswahl und die Europawahl. Am Status quo hat sich wenig geändert, was für Krétakör aber eine Verschärfung der Lage bedeutet. Das Stück hat sich seitdem weiterentwickelt, verdichtet, dient immer mehr als aufgeschrienes „Man muss doch“ in einer geradezu absurden Situation. Denn so schizophren wie das Berufsleben von Árpád Schilling verläuft wohl kaum ein Berufsleben im europäischen Theaterkosmos – höchstens vielleicht das anderer ungarischer Regisseure, die im Ausland, vor allem im deutschsprachigen Raum, gefeiert werden und die in Budapest, durchaus vor vollen Häusern und jubelnden Menschen, den Resten der Zivilgesellschaft spielend, ausgegrenzt werden. Im deutschsprachigen Theaterbetrieb ist Schilling bestens beschäftigt; zwei Tage nach einer „Faust“-Opernpremiere in Basel begannen im Mai die Proben zu „Die Sache Makropoulos“ an der Bayerischen Staatsoper in München.
„Du bist so ein Alternativer“, kriegt er dafür zuhause zu hören. „Du bist komisch“, wurde ihm auch früher schon nachgesagt. „Warum willst du nicht an ein festes Haus? Dort ist das Geld.“ Aber mit dem Wunsch nach freier Gestaltung steht Schilling in einer bewährten Tradition vieler, die mit ihm, aber auch schon vor ihm die legendäre Budapester Hochschule für Regie abgeschlossen haben. Anstatt an die „Steintheater“, wie sie wörtlich auf Ungarisch heißen, zu gehen, widmeten sie sich lieber ihrer eigenen kleinen Organisationsstruktur. Das gilt für Béla Pintér, dessen Company in 15 Jahren 19 Repertoire-Stücke erarbeitet hat, die in Budapest über Monate ausverkauft sind und auch in Ungarn und Europa erfolgreich gastieren. Das gilt für Kornél Mundruczó, der sich als theatraler Filmemacher und filmischer Theatermann gerne außerhalb der üblichen Schauplätze bewegt. Aber auch für Viktor Bodó, der Mitglieder seiner Szputnyik Shipping Company immer wieder gerne in seine Arbeiten am Schauspielhaus Graz einbindet. Alle sind sie, wie Schilling, in den Siebzigern geboren, haben als Jugendliche noch den Sozialismus in Ungarn miterlebt und als Erwachsene dann wie selbstverständlich ihr eigenes Ding durchgezogen.
2009 waren sie dann so weit, die Systemferne in ein System zu integrieren: Eine neue Förderstruktur sah eine Garantie von zehn Prozent der für performative Kunst verfügbaren Mittel für freie Gruppen vor, die Unabhängigkeit wurde als gültiger Teil der künstlerischen Wirklichkeit anerkannt. Doch so ziemlich alles andere machte die damalige Koalition falsch, bei der Wahl 2010 wurde sie massiv abgestraft, die weit rechts stehende, oftmals offen gegen Juden und Roma wetternde Jobbik erhielt zweistellige Stimmenanteile, und Orbáns Fidesz erlangte mit dem Versprechen, Ungarn werde nun wieder etwas wert sein in der Welt, eine im neuen Jahrtausend in Europa konkurrenzlose Verfassungsmehrheit. Die Verfassung wurde dann auch gleich geändert, das Mediengesetz reformiert, Ungarn auf den Kopf gestellt. Scharfe Kritik von außerhalb wurde als Einmischung und Abwertung eines wieder erstarkenden Ungarntums ausgelegt, besagte zehnprozentige Garantie wieder gestrichen und durch ein Ausschreibungssystem mit willkürlicher Entscheidung des Ministeriums ersetzt.
Unterdessen horcht das theateraffine Ausland auf, nimmt sich der ungarischen Künstler an, gibt ihnen Arbeit. Der rausgeekelte Ex-Direktor des Budapester Nationaltheaters, Róbert Alföldi, inszeniert jetzt auf Deutsch, von Eggenfelden bis Wien. „Wir betreiben mal wieder ein bisschen Landesverrat“, scherzen ungarische Kulturjournalisten, wenn sie bei einem Festival oder Kongress im Ausland über die heimische Situation berichten und sicher sein können, von der regierungsnahen Presse dafür abgekanzelt zu werden. Und plötzlich lädt niemand mehr Schilling und Konsorten an die festen Häuser ein. „Bleibt nur weg“, heißt es jetzt. „Geht doch in den Westen mit eurer dekadenten Scheiße.“
Das könnte er wahrscheinlich, aber er traut sich nicht. Noch nicht. „Ich arbeite gerade in München an der Bayerischen Staatsoper“, sagt Árpád Schilling. „Wenn man sich mit Oper beschäftigt, ist das der Gipfel einer Karriere. Und in Ungarn darf ich trotzdem nicht Teil eines sinnvollen Dialogs sein. Ich höre nur: ,Jammert nicht. Ihr hattet es vorher gut, jetzt eben nicht mehr, denn jetzt haben wir es gut.‘“
Und jetzt noch die schwarze Liste. Es wird immer schwerer für Árpád Schilling, seine nicht grundsätzliche Regierungsgegnerschaft zu erklären, nachdem die Regierung ihn zum Feind erklärt hat, einfach nur, weil er Vernunft und gesunden Menschenverstand und einen Blick über den Tellerrand predigt. Seine beste Vision für Ungarn? „Dass sie sich von innen heraus zerfleischen.“ Aber um einfach wegzuziehen, dazu ist die Bindung zu stark. „Hätte ich einen längerfristigen Job, würde ich darüber ernstlich nachdenken, im Sinne der Zukunft meiner Kinder. Wenn diese von Orbán gepachtete imperiale Macht, in der christlicher Religionsunterricht verpflichtend ist länger anhält – und ich sage nicht, dass mir die MSZP lieber wäre –, dann suche ich vielleicht wirklich das Weite.“