Über 90 Jahre nach seiner Entstehung wird das Stück „Niemand“ des Schriftstellers Ödön von Horváth im Theater in der Josefstadt uraufgeführt. Rekonstruktion einer Entdeckung
Plötzlich war es da, das brandneue Stück von Ödön von Horváth, der seit 78 Jahren tot ist: 95 getippte Seiten, ein sogenanntes Typoskript, im blauen Einband und mit handschriftlichen Anmerkungen und Korrekturen. „Niemand“ heißt es, niemand kann sich erklären, wie es über 90 Jahre unentdeckt bleiben konnte, aber alle erwarten mit Spannung die Uraufführung eines frühen Stückes von einem der wichtigsten deutschsprachigen Dramatiker im 20. Jahrhundert im Theater in der Josefstadt, aus dessen Feder die Klassiker „Geschichten aus dem Wienerwald“, „Der jüngste Tag“ und „Kasimir und Karoline“ stammen. „Niemand“ spielt in einem Mietshaus, „graugelbe Nebel“ liegen über allem. Der Besitzer, ein Pfandleiher und Krüppel mit dem hochtrabenden Namen Fürchtegott Lehmann, setzt Menschen auf die Straße, die ihre Miete nicht bezahlen können. Ein Fremder taucht auf und verschwindet wieder, kehrt später als Lehmanns Bruder Kaspar zurück und spannt ihm die Frau aus. Der Dramaturgie der Handlung wohnt eine Mystik wie den Filmen von David Lynch inne. Das Milieu jedoch ist das der von Horváth bekannten bekannten Arbeitenden und Arbeitslosen der Städte, und der sprachliche Stil atmet ebenfalls unverkennbar seine verzweifelte Melancholie.
Ein einziges Mal hat Ödöns Bruder Lajos die Farbe des Einbands, den Titel und die „expressionistische Manier“ des Stückes einem Horváth-Biografen gegenüber erwähnt, man glaubte nicht, dass es noch existierte. Recherchen ergaben, dass eine anonyme Privatperson das Objekt in den Neunzigern in einem Auktionshaus in Pforzheim für gut hundert D-Mark ersteigert haben soll. Auf unergründlichen Wegen ‒ der Auktionshandel zeichnet sich nicht gerade durch Transparenz aus ‒ gelangte es im März 2015 in Berlin neuerlich unter den Hammer.
Der Journalist Hubert Spiegel nutzte die Möglichkeit, das Objekt vor Ort zu begutachten, und veröffentlichte am Tag der Auktion einen Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Am Tag danach wurde der Text online um die Information erweitert, dass die Wienbibliothek für elftausend Euro den Zuschlag erhalten hatte. „Wäre der Artikel schon vor der Auktion erschienen, hätten wir keine Chance gehabt“, ist sich Christoph Mai, Generalsekretär der Wienbibliothek, sicher. „Mit ein bisschen Glück überblättern manchmal selbst Experten die interessanten Losnummern in den Katalogen.“ In anderen Worten: Viele, die den Katalog des Auktionshauses J. A. Stargardt erhielten, verkannten das Sensationelle an diesem bestimmten Objekt.
Wenn man bedenkt, dass für ein Notenmanuskript von Gustav Mahler bei Sotheby’s im November eine Summe von vier Millionen Euro erwartet wird, sind elftausend Euro schon für sich genommen ein Schnäppchen. Dass sich auch der Inhalt von „Niemand“ verwerten lässt, konnten die Bieter nur hoffen. Die Handschrift wurde jedenfalls grafologisch klar Ödön von Horváth zugeordnet, es besteht kein Zweifel an der Echtheit. Die Wienbibliothek, die schon über große Teile des Horváth-Nachlasses verfügt, kann die von ihr unterstützte kritische Werkausgabe durch das auf 1924 datierte Werk ergänzen.
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