Gleich zwei seiner Arbeiten zeigt der südafrikanische Allrounder William Kentridge heuer in Wien: sein neuestes Werk über die Vor- und Nachteile der Aufklärung und einen Klassiker ohne Sinn
Was für eine Frage! „The Great Yes, The Great No“? Zu William Kentridge lohnt es sich immer, „Ja“ zu sagen. Warum er seiner neuesten Arbeit trotzdem diesen hadernden Titel gab, erklärt der südafrikanische Universalkünstler dem Falter, wie er es selbst poetisch beschreibt, „an einem sonnigen, aber kühlen Wintermorgen in Johannesburg in meinem Atelier mit Blick auf das sich orange färbende Laub und über den Norden der Stadt hinweg bis nach Nordafrika.“
Falter: Mister Kentridge, in Ihrer neuesten Produktion fährt ein „Narrenschiff“ von Marseille nach Martinique. Was verbindet die Passagiere an Bord?
William Kentridge: In der Hauptsache handelt es sich um eine Reise vom Festland zu den französischen Kolonien. Es geht um die Frage, was es bedeutet, zu einer zentralen Macht auf Distanz zu gehen. Die wichtigsten Protagonisten dieser Debatte sind die großen Schriftsteller aus Martinique: Aimé Césaire, Verfasser von „Zurück ins Land meiner Geburt“, einem der großen Gedichte des 20. Jahrhunderts, seine Frau, die Essayistin Suzanne, und ihr gemeinsamer Schüler Frantz Fanon. Auf dem Schiff sind aber auch einige, die tatsächlich 1941 von Marseille nach Martinique flohen: André Breton, Anna Seghers, Claude Lévi-Strauss. Es verbinden sie Fragen der Assimilation und der Dekolonisation, der Identität und der Migration, die uns auch heute noch alle beschäftigen. Denken Sie nur an die Grenzkontrollen vor der „Festung Europa“.
Was hat es mit dem Titel „The Great Yes, the Great No“ auf sich?
Kentridge: Diesen Titel habe ich schon vor vielen Jahren in ein Notizbuch geschrieben, lange bevor ich wusste, wovon das Stück handeln sollte. Es war ein Arbeitstitel, aber er ist geblieben. Die große Frage ist: Soll man „Ja“ zu all den Lehren der Aufklärung sagen, in der Hoffnung, Teil dieses Projekts zu werden, oder „Nein“, weil alle Versuche der Menschen aus den Kolonien, dem Projekt beizutreten, stets gescheitert sind? Deshalb ist ein großes Misstrauen gegenüber der Aufklärung und ihren Ideen entstanden. Inwieweit ist Europa ein Modell, das es anzustreben und nachzuahmen gilt, inwieweit ist es ein unerfüllbarer Traum, zu diesem Zentrum zu gehören? Jede Antwort ist also eine schlechte Antwort, das führt uns zum Titel.
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