In meinem 2016 erschienenen „Buch der Schurken“ versammelte ich 100 der genialsten Bösewichte der Weltliteratur in einem Minilexikon. Einige blieben dabei auf der Strecke. Schändlicherweise. Hier begleiche ich nach und nach die schurkische Schuld.
Morden ist menschlich, sagt uns das Gesamtwerk von Ingrid Noll. Alle Heldinnen der Frau, die erst mit Mitte 50 zu schreiben begann, haben so eine genüsslich schurkische Aura um sich. Das war schon bei der allerersten so, und das mit dem menschlichen Faktor schiebt uns die Autorin perfide unauffällig unter, indem sie Rosemarie Hirte ihre Geschichte gleich selbst erzählen und dabei immer wieder auch über ihr (ein bisschen) schlechtes Gewissen sprechen lässt. Auch Selbstironie und -kritik sind ihr, deren Vorbild Brechts Seeräuber-Jenny ist, nicht fremd: „Ich war die Frau, mit der man angeblich Pferde stehen kann und die schließlich selbst einem Pferd immer ähnlicher wurde“, beginnt sie ihren Bericht.
„Der Hahn ist tot“, nach dem bekannten Kanon, ist der 1991 erschienene Debütroman der heute 88-jährigen Ingrid Noll betitelt. Dabei sterben zunächst vor allem die Hennen, sprich: die Rivalinnen der 52-jährigen Protagonistin. Rosemarie, teils Rosi, teils bei ihrem zweiten Vornamen Thyra genannt, hat sich in einen etwas eitlen Lehrer verliebt, der einen kunsthistorischen Vortrag hielt, für dessen Inhalt sich Frau Hirte absolut nicht interessierte. Da sie nie die Sozialste war, entscheidet sie sich dagegen, ihn anzusprechen, und dafür, ihn zu stalken, zu einer Zeit, als dieser Begriff im Deutschen noch nicht geläufig war. So beobachtet sie „Witold“ – ihren Angebeteten Rainer Engstern nennt sie seinerseits beim zweiten Vornamen, um sich ein Alleinstellungsmerkmal zu sichern – beim Streit mit seiner alkoholkranken Frau, in dessen Verlauf ein Schuss fällt.
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