Probier’s mal mit Nachhaltigkeit: Akram Khan fantasiert das „Dschungelbuch“ im Zeichen der Klimakrise neu – in Moll.
Sie sind noch da, die sich an den Achseln kratzenden Affen, die anmutig schleichende Pantherkatze, das raufende Wolfsrudel. In der Darstellung durch menschliche Performer*innen sind die Tiere kinderleicht zu erkennen, wie man das eben erwartet von einer tänzerischen Adaption des „Dschungelbuchs“. Auch Namen wie Mowgli und Baghira, Balu und Kaa haben der Choreograf Akram Khan und sein Autor Tariq Jordan den 1894 erschienenen Erzählungen des Nobelpreisträgers Rudyard Kipling entnommen. Aber das war es auch schon mit dem Identifikationspotenzial: Die Zeit für niedlichen Disney-Ulk und „Probier’s mal mit Gemütlichkeit“ ist vorbei.
Kinder sind im Publikum von „Jungle Book reimagined“ zwar willkommen, aber zu lachen haben sie nichts. In düsterer Beleuchtung wird ihnen eine Welt vorgetanzt, die praktisch unbewohnbar ist. Menschenleere Städte unter Wasser sind der neue Dschungel. Und auch hier lässt sich nicht dauerhaft bleiben. Mowgli – von Anfang an ein Klimaflüchtling – mag den bedrohlichen Jäger mit dem Schießgewehr zwar besiegt haben. Aber das ändert nun einmal nichts daran, dass die Meeresspiegel erbarmungslos weitersteigen.
Akram Khan kann sich diese Ehrlichkeit leisten. Sein Name zieht. Seit über 30 Jahren ist er einer der großen Player im internationalen Tanzgeschäft. Seine Stücke touren durch die ganze Welt, obwohl der 47-jährige Brite mit Wurzeln in Bangladesch seit dem Solo „Xenos“ (2018) nicht mehr selbst auftritt. Eine Maschinerie aus Coaches, Rehearsal Directors, kreativen und administrativen Mitarbeiter*innen drillt die Ensembles und betreut die Produktionen.
Bekannt wurde Khan für seine furios-verspielten Verheiratungen des indischen Kathak-Stils, den er von Kind auf gelernt hatte, mit westlichem Contemporary Dance. Als er mit nur 25 Jahren die Akram Khan Company gründete, war er bereits als gefeierter Star aus Peter Brooks Verarbeitung des „Mahabharata“-Epos mit der Shakespeare Company um die Welt gereist. Davor noch, Mitte der 1980er-Jahre, war die erste große Rolle des damals elfjährigen Kathak-Schülers: Mowgli.
Endproben und Uraufführung von „Jungle Book reimagined“ fanden nicht etwa in London statt, sondern, wie so oft im englischsprachigen Raum, in der Provinz. Die Stadt Leicester nördlich der Hauptstadt verzeichnet immerhin 350.000 Einwohner*innen. Obwohl sie laut der Hotelrezeptionistin „no attractions“ hat, weil sie „so tiny“ ist, schlägt sie in dieser Hinsicht locker St. Pölten, Niederösterreich (55.000 EW), wo die Produktion im Mai ihre Kontinentalpremiere im Festspielhaus feiern wird. Amüsiert stellt der Besucher schon auf der Anreise fest, dass eine Akram-Khan-Weltpremiere hier nicht das wichtigste Ereignis des Tages ist: Eine Gruppe grölender Holländer dominiert den Zug, sie fahren zum Auswärtsspiel des PSV Eindhoven gegen Leicester City. Auch am Spielort, dem riesigen, Friedrichstadtpalast-ähnlichen Curve Theatre, wähnt man sich zunächst falsch. Ankündigungen des im Sommer hier laufenden Elton-John-Musicals „Billy Elliott“ und des Weihnachtsprogramms „The Wizard of Oz“ sind größer und schreiender angeschlagen als das bescheidene Plakat zur aktuellen Tanzproduktion. Die natürlich trotzdem voll ist – und eine große Show. Das zeigt – neben dem gänzlichen Fehlen der Unterscheidung zwischen E- und U-Kultur im anglophonen Raum –, in welcher Liga die Akram Khan Company spielt.
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