Eugène Ionescos Anti-Stück "Die kahle Sängerin" entstand 1950 nach Leerformeln aus seinem Englischbuch. Und begründete das absurde Theater. In Graz hat sich Komödienspezialistin Anita Vulesica des Klassikers angenommen.
19. November 2022. Man soll die Klassiker ja gegen den Strich bürsten. Aber geht das überhaupt bei einem Werk wie der "Kahlen Sängerin", das alle dramaturgischen Regeln bricht? Das hat ja nicht einmal einen Strich! Anita Vulesica schafft es, indem sie am Schauspielhaus Graz die bei Ionesco in einem Satz erwähnte und sonst völlig unerhebliche Titelfigur ... vorkommen lässt! Unerhört! Was kommt als nächstes? Godot?!
Die kahle Sängerin trägt in Gestalt des Schauspielhaus-Inspizienten Roland Fischer jedenfalls noch immer (fast) die gleiche Frisur, ihrem Namen entsprechend, und trällert die Namen aller sechs Spieler:innen, bevor diese ein alternatives Ende für Eugène Ionescos Einakter einläuten. Statt der gegenseitigen Beflegelung dienen Ionescos Nonsens-Satzfetzen einer Sing-a-long-Liebeserklärung. Damit erschließen sich auch die Seventies-Kostüme: LOVE is all around, auch im Zuschauerraum, in Form von Transparenten und Chören (die Noten dazu finden sich im Programmheft).
Tragödie der Sprache
Vulesica ist Regie-Spezialistin fürs Komödiantische. Ihre beiden Grazer Inszenierungen "dritte republik (eine vermessung)" und "Garland" fuhren Nestroy-Preise als beste Bundesländer-Aufführung ein, weil Timing und Rhythmus stimmten. Zum Abschied inszeniert sie einen Text, bei dem man schon von vornherein erwartet, dass er lustig ist.
Dabei wollte Ionesco (1909–1994) mit seiner "Kahlen Sängerin" 1950 doch die Tragödie der Sprache hervorkehren! Der nach Paris emigrierte Rumäne reihte inhaltlich richtige ("Der Boden ist unten"), aber zusammenhanglose Sätze aus seinem Englischunterricht aneinander. Daraus erwuchs ein Stück ohne Sinn, aber mit einer Art Handlung: Die Smiths empfangen die Martins. Ihr Dienstmädchen Mary und ein Feuerwehrhauptmann sind auch da. Das Publikum lachte. Das absurde Theater war geboren.