In meinem 2016 erschienenen „Buch der Schurken“ versammelte ich 100 der genialsten Bösewichte der Weltliteratur in einem Minilexikon. Einige blieben dabei auf der Strecke. Schändlicherweise. Hier begleiche ich nach und nach die schurkische Schuld.
Wenn sie lächelt, kann nichts schiefgehen. Die Frauen, die sie durchschauen, beneiden sie. Die Männer durchschauen sie nicht und verfallen ihr. Mit ihrem geheimnisvollen Lächeln bleibt „Der französische Gast“ in England „Someone at a Distance“ – um den deutschen und den original englischen Titel des Romans von Dorothy Whipple vorzustellen – und zerstört nach und nach aus verletztem Stolz ein perfektes, wenn auch unspektakuläres Familienglück.
Louise verachtet ihre Eltern in der französischen Provinz und kann nicht verkraften, dass ihr heimlicher Liebhaber sie für eine häuslichere, vornehmere Frau sitzen ließ. So nimmt sie das Angebot einer ältlichen Britin an, ihr Gesellschaft zu leisten, erbt von ihr eine hübsche Summe und rückt daraufhin ihrem Sohn Avery so lange auf die Pelle, bis der sich irgendwann von ihr verführen lässt, just als seine Frau Ellen und die gemeinsame Tochter Anne bei der Tür hereinkommen. Der englische Ausdruck „to overstay one’s welcome“ ist hier – seinerseits sehr englisch – ein Understatement.
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