Silvesterpremiere trotz Lockdown: Mit „Die Maschine in mir“ erforscht das Regieduo Dead Centre den Transhumanismus
Im Burgtheater-Kasino steht der Publikumsliebling Michael Maertens vor einer grünen Leinwand, wie man sie aus den Making-ofs von Fantasyfilmen kennt. Zwei Frauen knien vor ihm und fummeln am Schritt seiner Hose herum. Ein Schelm, wer Böses denkt: Beide tragen FFP2-Masken.
Was hier vor sich geht, erschließt sich beim Probenbesuch zu „Die Maschine in mir“ erst später. Es gibt einen trockenen Durchlauf und zwei, nun ja, nasse. Maertens spricht zum Videobild von Mark O’Connell, Verfasser des Sachbuchs „To Be a Machine“, das dem Stück zugrunde liegt. Er äußert Verständnis, dass Mark sich wegen eines Blasenleidens nicht selbst auf die Bühne traue. „Man will sich da oben ja nicht vor den Leuten in die Hose machen.“ Auf Maertens’ Hose breitet sich ein dunkler Fleck aus.
„Wenn einem selber das passiert, ist es echt unlustig“, mahnt Bush Moukarzel, mit Ben Kidd zusammen Erfinder und Regisseur des Abends. Dass die Pointe hier gespoilert wird, geht in Ordnung. „Vielleicht gibt es ja ein paar seltsame Typen, die sagen: Wenn’s mit Pissen ist, dann komm ich!“, meint Michael Maertens im Gespräch schmunzelnd.
Maertens ist der einzige Schauspieler des digitalen Theaterstücks. Er schlüpft in die Rolle des Journalisten O’Connell, der prominente Vertreter des Transhumanismus traf. Diese Strömung will die Grenzen des sterblichen Körpers technisch überwinden. Auf der Bühne wird das in ein Spiel mit Maertens’ Identität übersetzt. „Man weiß nicht: Bin ich ich? Bin ich der Autor? Bin ich überhaupt ein Mensch? Eine Maschine? Ein Guru?“, sagt er, nun sehr wohl bemüht, nicht zu viel zu verraten. Wer eine Karte kauft, erhält zwei Links: einen, um kurze Videos des eigenen Gesichts aufzunehmen und einzuschicken, einen weiteren zur Live-Aufführung. Jeden Abend hat Maertens die Gesichter von 100 „anwesenden“ Personen vor sich. Sie werden auf iPads geladen, die im Zuschauerraum verteilt sind.
Obwohl gerade eine Silvesterpremiere geprobt wird, sieht es im Kasino mehr nach Filmset aus als nach Theater. Eine Kamera ist an einem Gerüst befestigt, das auf einer Schiene vor und zurück fährt. Für Burgtheater-Direktor Martin Kušej muss das ein schmerzlicher Anblick sein. Er ist erklärter Gegner der im Corona-Lockdown aufblühenden Praxis, Theater im Netz zu zeigen. „Aber als er realisiert hat, dass dieser fucking Lockdown womöglich ewig weitergeht und es Kapazitäten durch die Corona-bedingte Verschiebung einer anderen Produktion gab, hat er uns zu dieser Arbeit eingeladen“, sagt Moukarzel. Er und Kidd agieren unter dem Namen Dead Centre und haben heuer im Jänner bereits „Die Traumdeutung von Sigmund Freud“ ins Akademietheater gebracht.
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