Der Regisseur Árpád Schilling inszeniert in St. Pölten „Erleichterung“ und verzweifelt währenddessen an der ungarischen Gesellschaft
Mehr noch als sonst ist Árpád Schilling derzeit ein Zerrissener. Einerseits ist er Regisseur, der sagt: „Ich will Geschichten erzählen.“ Am Landestheater Niederösterreich probt er für seine nächste Premiere, die nach seinem auch schon in der Burgtheater-Produktion „Eiswind“ 2016 angewandten Konzept der Stückentwicklung entsteht. Sehr persönliche Themen wie Familie, Kunst und Gewissen stehen im Mittelpunkt, die Figuren sind ganz normale österreichische Kleinstadtbürger. Stoff und Text entstanden sehr kurzfristig in enger Zusammenarbeit mit dem Ensemble, so ist er sehr dankbar, dass Intendantin Marie Rötzer zustimmte, den Abonnenten den Titel erst Ende Oktober mitzuteilen: „Erleichterung“.
Andererseits würden sich für all das wahrscheinlich viel weniger Leute interessieren, wenn Schilling nicht auch noch in einer zweiten Funktion aktiv wäre: als Ungar, besser gesagt als ungarischer „Staatsfeind der Nation“. Vergangenen September trat der Vorsitzende des Parlamentsausschusses für Nationale Sicherheit nach einer Sitzung vor die Presse und nannte drei potenzielle Vorbereiter staatsfeindlicher Aktivitäten: den Bürgerrechtler Gábor Vágó und die Künstler Márton Gulyás und Árpád Schilling, die 1995 die legendäre Theatergruppe Krétakör (Kreidekreis) gründeten.
Ursprünglich verfolgte Krétakör ein puristisches Theater – Schauspiel ohne Schnickschnack und Spektakel, das nur von Sprache und Emotion lebte. Die Arbeitsweise machte Schilling auch international bekannt. Seine „Möwe“ nach Tschechow wurde zu den Wiener Festwochen eingeladen, „Hamlet3“ wurde ein Erfolg am Burgtheater. Heute fungiert Krétakör in Ungarn als Plattform für Zivilcourage und setzt sich für politische Bildung ein. Schilling hat sich von den Sprechtheaterklassikern verabschiedet. Er inszeniert Opern und entwickelt, wie er sie selbst mit dem deutschen Wort nennt, „Zeitstücke“, deren Inhalt in ihrer Gegenwart verwurzelt sind.
Die Regierungspartei Fidesz des Ministerpräsidenten Viktor Orbán kritisiert Schilling scharf und offen, nimmt an friedlichen Demonstrationen teil oder organisiert diese. „Natürlich habe ich das alles im Rahmen meiner demokratischen Möglichkeiten getan. Trotzdem bin ich ein Staatsfeind. Wenn umgekehrt gewaltsame Proteste aufwallen, weil ein dörflicher Pensionsbesitzer eingewilligt hat, staatlich anerkannte Flüchtlinge für eine Woche bei sich urlauben zu lassen, sagt Orbán: ,Das ist Demokratie.‘“
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