Franz Werfel
Die vierzig Tage des Musa Dagh
S. Fischer Verlag, € 15,40
ISBN: 978-3-596-29458-9
Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal: ein Historienthriller mit eigener bewegter Historie zum 100. Gedenktag der Armenier-Tragödie
“Nichts erleichtert im Mißgeschick das menschliche Herz so wohltätig wie der Trieb, bestimmte Personen auch für ein elementares Unheil schuldig zu sprechen und mit Vorwürfen zu überhäufen.”
Schuldfragen. Dieses Jahr sind sie in aller Munde: die Armenier in der Türkei und das, was im Zuge des Ersten Weltkriegs vor genau 100 Jahren an ihnen verübt wurde. Papst Franziskus nannte es (durchaus nicht als Erster) bei einer Gedenkveranstaltung geradeheraus „Genozid“. Prompt gab es diplomatische Verstimmungen mit der Türkei. Einer jedenfalls hätte Franziskus sofort mit vehementer Geste zugenickt: der österreichische Schriftsteller Franz Werfel. Ohne seinen historischen Thriller „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ wäre die Tragödie der Armenier sehr wahrscheinlich viel weniger bekannt.
Werfel reiste mit seiner Frau 1929 in den Orient, wo ihm die wahre Geschichte der Menschen aus Yoghonoluk zugetragen wurde. Werfel wurde von Empathie gepackt, arbeitete sich in die historischen Fakten hinein und schuf rund um diese Fakten eine Fiktion, die seitdem ‒ 1933 kam der Roman heraus ‒ Scharen von Lesern knapp 1000 Seiten hindurch packt. Besonders dankbar waren die Armenier. Sie konnten ihr Glück kaum fassen, dass Werfel ihnen ungefragt ein so eindrückliches geistiges Denkmal setzte, und setzten ihm ihrerseits ein physisches, das heute im Wiener Schillerpark steht.
Yoghonoluk war ein „gallisches Dorf“ (in Wahrheit: ein armenisches) in der Südtürkei, dessen Gemeinschaft vom geplanten Vernichtungsfeldzug erfuhr und sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf dem Berg Musa Dağı verschanzte. Dort planten sie einerseits die Verteidigung gegen die Türken und versuchten andererseits, ein „normales“ Leben mit Unterricht und Gebet aufrechtzuerhalten. 4-5000 waren anfangs dabei, und Werfels kraftvolle Worte geben so manchem plastische Gestalt. Allen voran steht Gabriel Bagradian, nicht nur dank seines sagenhaft klingenden Namens eine veritable Heldenfigur. Am Ende der 40 Tage, als französische Kriegsschiffe die türkischen Belagerer zurücktreiben, die Schlacht also gewonnen ist, ist er so erschöpft, dass er den rettenden Schiffen fernbleibt und am Grab des Sohnes an einer letzten Kugel stirbt.
Wahrhaft Blut, Schweiß und Tränen werden hier vergossen, und der Heldendichter bezieht klar politisch Stellung: „Den Jungtürken aber gelang es, das Werk von Jahrhunderten in einem Atemzug zu zerstören. Sie taten das, was sie gerade als Beherrscher eines Völkerstaates niemals hätten tun dürfen! Durch ihren eigenen Nationalwahn erweckten sie den der unterworfenen Völker.“ Viel klarer hätte es der Papst auch nicht ausdrücken können.
HELD DER ARMENIER
Stationen im Werdegang eines Romans
NS-Verbot 1934
Werfels Roman kam quasi zeitgleich mit den Nazis. In NS-Deutschland wurde er schon drei Monate nach seinem Erscheinen auf Basis einer Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes wegen „Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung“ verboten, die Akademie der Künste verbannte ihn. Nichtsdestotrotz, so schrieb Marcel Reich-Ranicki einmal, waren die „vierzig Tage“ wohl das meistgelesene Buch im Warschauer Ghetto.
Beststeller in den USA
Nach dem „Anschluss“ 1938 kehrten Werfel und seine Frau Alma Mahler nicht mehr nach Österreich zurück, sondern gingen in die USA. 1941 wurde Werfel gar amerikanischer Staatsbürger. Vor allem sein Roman über Bernadette, der die Jungfrau Maria in Lourdes erschien, aber auch die „vierzig Tage“ verkauften sich auf Englisch sensationell. Schon bei einer früheren USA-Reise hatte die armenische Community in New York den Schriftsteller hochleben lassen.
Geplatzte Verfilmungen
Niemand geringerer als Clark Gable wurde für die Rolle des Gabriel Bagradian in der Hollywood-Verfilmung gecastet. Die türkische Botschaft jedoch übte so starken Druck aus, dass der Film nie gemacht wurde. Angeblich ereilte Mel Gibson im neuen Jahrtausend ein ähnliches Schicksal: Ein E-Mail-Shitstorm schreckte ihn vom Thema ab.
Werfeldenkmal
Der armenische Staat beauftragte im Jahr 2000 den Landsmann Ohan Petrosjan mit der Schaffung einer Büste, die Franz Werfel zeigt. Aufgestellt wurde sie unweit ehrenwerter Dichterkollegen wie Friedrich Schiller und Nikolaus Lenau. „In Dankbarkeit. Das armenische Volk“, ist darunter in Granit gemeißelt.
„ARMENIER SEIN IST EINE UNMÖGLICHKEIT“ – Aus der bestgeschriebenen Anklageschrift der Welt
“Die Nacht des Musa Dagh saugte schnell die Julidämmerung auf. Der waagrechte Halbmond stieß sich von den Gipfelschroffen des Amanus im Osten ab und fuhr frei in den Raum hinaus.”
“Wenn ich nicht an das Böse glaube, so gibt es kein Böses in der Welt ... Wenn ich nicht an den Tod glaube, so gibt es keinen Tod in der Welt ... Mögen sie mich ermorden, ich werde es nicht einmal merken ... Wer diesen Punkt erreicht, der baut die Welt aus dem Geiste neu!”
“In jedem Mißerfolg aber liegt ein Element der Gnade, weil er die ganze Lächerlichkeit menschlicher Wert-Anmaßungen grinsend entlarvt.”
“Dies war aber nicht nur das gewöhnliche Kopfwackeln, das ihn seit seiner Krankheit häufig anfiel. Es bedeutete das fassungslose Nicht-Begreifen einer Welt, in der zum Geist verpflichtete Wesen, anstatt in die Wonnen der Definitionen, Formeln und Verse einzudringen, sich mit fanatischem Gurgelabschneiden befassen.”
“Armenier sein ist eine Unmöglichkeit. Sehr wahr! Die Unmöglichkeiten sind aber für Gabriel Bagradian abgetan. Mit unbeschreiblicher Sicherheit erfüllt ihn das Einzig-Mögliche. Er hat das Schicksal seines Blutes geteilt. Er hat den Kampf seines Heimatvolkes geführt.”