Stefano D'Arrigo
Horcynus Orca
Aus dem Italienischen von Moshe Kahn
S. Fischer Verlag, € 58,00
ISBN: 978-3-10-015337-1
Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal: der neue Killerwal unter den Wälzern – ein mythenumranktes Sprachkunstwerk aus Sizilien
“Sie ruderte für hundert, sie durchharkte das tote Gewässer bündelweise, zerdrückte und zermalmte es, um darin ihre Flucht zu graben, im Flug legte sie eine vielleicht zweihundert Meter lange Meeresstrecke zurück, und am Ende machte sie eine weit ausholende Kehre, um die Richtung zu ändern: Bei dieser derart risikoreichen Vorgehensweise orientierte sie sich mit einer so staunenerregenden Sicherheit, als würde ein unsichtbarer Vollmond am Himmel einzig für sie glänzen.”
„Damn lucky Germans!!“ Das schreibt ein neidischer Amerikaner auf der Bücherplattform Goodreads über „Horcynus Orca“. Denn obwohl Stefano D’Arrigos 1454-Seiten-Opus schon seit 40 Jahren als großer Klassiker der Weltliteratur gilt, liegt es bisher erst in einer einzigen Übersetzung vor: ins Deutsche. Und das auch erst seit heuer. Alle außer dem engagierten Moshe Kahn und seinem Herausgeber Egon Ammann hielten das Werk bisher für unlesbar und unübersetzbar. Verständlich, enthält es doch über 2000 Wortneuschöpfungen und ist in einem Gemisch aus Hochitalienisch und diversen sizilianischen Dialekten verfasst, das einen gleichzeitig einlullt und ängstigt, so wie die Wellen der unruhigen See. Na, viel Erfolg.
Aber Moshe Kahn hat es geschafft und dafür gleich ehrenwerte Preise eingestrichen. Acht Jahre hat er gebraucht, immerhin nur halb so lang wie der Autor für die „Überarbeitung“ seiner ursprünglich 100-seitigen Geschichte, in deren Verlauf er über 1000 Seiten hinzufügte. „Ulysses“ trifft hier „Moby Dick“ und wieder Ulysses, sprich: Odysseus.
Ein solcher ewiger Heimkehrer (obwohl er eigentlich netto nur acht Tage braucht) ist D’Arrigos Hauptfigur Moses ’Ndrja Cambria, Soldat aus Sizilien, der während des Zweiten Weltkriegs seine Marineeinheit verlässt und über die Meerenge zwischen Skylla und Charybdis nach Hause in sein Heimatdorf möchte, wo sein Vater und seine Verlobte auf ihn warten. Dabei begegnet er einer Reihe mythologisch angehauchter Gestalten: etwa der verführerischen Bootsbesitzerin Ceccina Circé und einem Malteser, der Ruderer für eine Regatta rekrutieren möchte. Und vor allem: unzähligen Fischen und Delfinen, genannt Feren („die Wilden“), und einem gigantischen Meereskoloss: dem Orcinus Orca oder Orcaferon oder Tiergiganten. Ihn als Killerwal oder Schwertwal zu beschreiben, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Dieses Monstrum, das das letzte Drittel des Romans regiert, ist größer als das Meer, größer als das Leben, sodass nur ein Ozean an Worten ihm beikommt: ein maritimer Superlativ wie dieses ganze Buch – org, Orca, „Horcynus Orca“.
ARKALAMEKK UND CO.
DIE SCHÖNSTEN WORTKREATIONEN VON D’ARRIGO/KAHN
Erohräugen
Seinem Autor zu Ehren schöpft Übersetzer Moshe Kahn Wörter, dass einem Hören und Sehen vergeht. Die, bei denen es ums Hören und Sehen geht, sind dabei besonders hübsch. So stellt er immer wieder das Hörengesagte dem Mitdenaugengesehenen gegenüber, und aus „oreocchiare“ werden das „Erohräugen“ und in weiterer Folge die „Ohraugen“.
Pomponade
Was wie buntes Gel in den Haaren klingt, macht sich auch als Ausdruck für Firlefanz und Affentheater ganz gut. D’Arrigos ursprüngliche Wortschöpfung lautet „pomponella“. Das französische Wort für Quaste, „pompon“ steckt auch drinnen.
Fere
Heftige Diskussionen entbrennen zwischen den Matrosen, ob die flinken Fischwesen, die sie umströmen, nun einfach schnöde Delfine oder zauberhafte Feren sind. Auf Sizilianisch sind Delfine „feruni“, aber auch der lateinische Wortstamm für „wild, ungezähmt“ ist hier zu finden. Also: Eine Fere ist ein Delfin, aber eigentlich auch nicht. Denn der Delfin bleibt in den Köpfen lieb und lustig, und der Fere komm besser nicht in die Quere.
Chinesischesdingsda
Hierbei handelt es sich um das männliche Genital. „Dingsda“ ist klar (und passt auch zum weiblichen Gegenstück, dem „Dingding“ oder „Glöckchen“, mit dem die kecke Ceccina Circé sogar die wilden Feren zähmt), warum es chinesisch ist, kommt einem ohne Italienischkenntnisse jedoch etwas spanisch vor.
Arkalamekk
Was für ein wundervolles Wort! Es bedeutet etwas Seltsames, Faszinierendes, Köstliches, Doppelbödiges, Dunkles. In dem Wort verbindet sich Mekka, Glücks- und Sehnsuchtsort, mit der Arche, dem archetypischen (!) Boot aller Boote.
WER DEN WAL HAT, HAT DIE QUAL – Zitate zum Seekrankwerden
“Ein Koloss von einem Körper, um die fünfzehn Meter lang und einige Tonnen schwer, von fetter Haut, die dampft wie erkaltende Lava und schwitzt so gemeine Düfte aus, dass man meint, alle seine Funktionen würde er mittels Ausschwitzen durch die Poren seiner Haut erledigen;(...).”
“Und in dieser Niederkunft der Winzlingsaale, in diesem Getropfe geheimnisvollen Lebens, das aus jeder Falte, jedem Riss, jedem Spalt und jedem Wundkrater hervorquoll, als würde alles aus der Haut hervorschwitzen, hatte der tote Orcaferon noch etwas von einem lebendigen Orcaferon, etwas Lebendiges, Ungeheuerliches, etwas, das den Tod brachte.”
“Jetzt ruderten die Milchbärtigen verschwommen in dunkelster Dunkelheit, sie waren nur Schatten mehr, die ohne Arme noch Hände über den Rudern wogten, wie eine leichte, machtvolle, gewundene, nicht aufzuhaltende Kruppe eines schwarzen Tiergiganten.”