Lolita Forever
Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal: wie uns das Geständnis eines herzhaft unanständigen Mannes um den Finger wickelt
“Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Meine Sünde, meine Seele. Lo-li-ta: die Zungenspitze macht drei Sprünge den Gaumen hinab und tippt bei Drei gegen die Zähne. Lo. Li. Ta.”
Nymphetten. Was eine Lolita ist, weiß wohl jeder, es steht sogar im Duden. Würden wir Humbert Humbert fragen, was Lolita ist, er würde sie als Nymphette bezeichnen. Das ist sein genüsslich halbwissenschaftlicher Ausdruck für die Art Frau, der er hoffnungslos verfallen ist: für die Gerade-noch-Kinder, deren Reife gerade erst in Knospe steht. So eine Vorliebe geht natürlich gar nicht, und Humbert Humbert weiß das nur zu gut. Aber was soll er machen? Er ist halt einerseits das, was wir heute wohl einen Pädophilen nennen würden, und andererseits ein Charmeur erster Güte. Der Charmeur und das Gör: Autsch!
Lolita ist sein Kosename für Dolores Haze, die seine Lieblingsnymphette ist, schon deshalb, weil er ihr nicht nur nachlechzt, sondern sie tatsächlich erobert hat. Er heiratete ihre Mutter, um ihr nahe zu sein, die starb eines Unfalltodes (nein, er hat sie nicht umgebracht, das legt er ziemlich überzeugend dar), und dann verführte die kleine Göre ihn, nicht umgekehrt (auch das legt der Ich-Erzähler, na ja, relativ überzeugend dar).
Zu diesem Zeitpunkt sind wir bereits mitten in der perfidesten Verteidigungsrede der Literaturgeschichte. Kurzerhand zu Mitgeschworenen erklärt, sind wir gezwungen, gebannt den sprachlich geschliffenen Ausführungen eines Übeltäters zu folgen, den wir eigentlich einfach nur hassen sollten. Zeigt sich Humbert Humbert geständig? Ja. Reuig? Nein. Vladimir Nabokov hat ein Monster kreiert, und zwar eines der lesenswertesten Monster der Literaturgeschichte. Vor 60 Jahren, Ende 1955, erschien sein Roman in Paris. Er war sofort vergriffen und so gut, dass dem pikanten Thema zum Trotz zu erwartende Skandal-/Verbots-/Zensur-Aktionen ausblieben.
Wie sehr sich die Geschichte auch zum fast normalen Beziehungsdrama mit Eifersucht, Flucht, Mord und Totschlag ausweitet, immer wird sie von diesem Mann erzählt, der den galligen Sprachwitz des Vladimir Nabokov nicht einmal ablegen könnte, wenn er es wollte. Nicht zuletzt diese Ambivalenz lässt das Buch des Mannes, der zuerst auf Russisch schrieb und dessen amerikanische Sprache (hier brillant auf Deutsch wiedergegeben) den Gipfel der Virtuosität erklomm, auf mehreren Listen bester Bücher des 20. Jahrhunderts ganz weit oben stehen.
DER REIZ DER NYMPHETTE
„Lolita“ im Fleischwolf der Nachwelt
Filme
Nabokov schrieb eine Drehbuchadaption für den großen Stanley Kubrick, die dieser komplett umschrieb. Eine Oscarnominierung bekam Nabokov trotzdem. Der Film erschien 1962, James Mason war der schwülstig verliebte Humbert, Sue Lyon das Mädchen. Die Neuverfilmung durch Adrian Lyne 1997 galt als „skandalös“ und davon abgesehen als nicht besonders gut. Aber wer würde Jeremy Irons den grimmigen Kinderverzahrer nicht abkaufen?
Parodien
Lustig: Hollywood-Schauspieler und Groteskenschreiber Steve Martin verfasste die Kurzgeschichte „Lolita at 50“ und fantasiert über deren Karriere mit vielen Ehemännern. Noch lustiger: Umberto Ecos kurze Parodie „Granita“, in der ein gewisser Umberto Umberto einer alten Oma verfällt. Die Erben Nabokovs fanden eine dritte Parodie nicht so lustig: Pia Peras „Diario di Lo“, die die Geschichte aus Lolitas Perspektive erzählt. Sie wollten die Übersetzung ins Englische verbieten lassen, aber: Parodien sind erlaubt!
Bühne
Besonderes Glück hatte der Stoff auf der Bühne nie: Iren haben Nabokovs quasi unverwendetes Drehbuch als Bühnenstück aufgeführt, Edward Albee („Wer hat Angst vor Virginia Woolf?“) schrieb ebenfalls eine eher erfolglose Stückfassung. Balette und Opern in allerlei Sprachen existieren nebeneinander, nur „Lolita! – Das Musical“ fehlt noch. In New York zeigte Richard Nelson „Lolita“ als Monolog mit dem bekannten Schauspieler Brian Cox 2009: Humbert Humbert sitzt allein in der Zelle und erinnert sich. Was ist dabei wahr, was verschwimmt?
Reflexion
In „Lolita lesen in Teheran“ (2003) beschreibt die iranisch-amerikanische Literaturprofessorin Azar Nafisi, wie sie im streng muslimischen Iran versuchte, Studentinnen unter anderem diese heitere Geschichte über Nymphomanie und Pädophilie näherzubringen. Wie Humbert der Lolita, so die Autorin, zwinge das iranische Regime den Iranern seinen Traum auf und mache sie damit zu einem Fantasiegebilde.
NYMPHISCHES: MARK UND BLUT UND GRÜNSCHILLERNDE FLIEGEN
Vladimir Nabokovs Humbert redet sich um Kopf und Kragen
“Seien wir korrekt und zivilisiert. Humbert Humbert gab sich große Mühe, brav zu sein. Wirklich und wahrhaftig, das tat er. Er hatte äußersten Respekt vor gewöhnlichen Kindern, vor ihrer Reinheit und Verletzbarkeit, und unter keinen Umständen hätte er die Unschuld eines Kindes angetastet, wenn die geringste Gefahr eines Skandals bestand.”
“Unter meinen huschenden Fingerspitzen fühlte ich, wie der winzige Flaum an ihrem Schienbein sich ganz leicht sträubte.”
“Ich bin nur der Natur gefolgt. Ich bin der getreue Spürhund der Natur. Warum also dies Grauen, das ich nicht abschütteln kann? Habe ich sie ihrer Blüte beraubt? Feinfühlige Damen Geschworene, ich war nicht einmal ihr erster Liebhaber.”
“Dies also ist meine Geschichte. Ich habe sie nochmals durchgelesen. Mark klebt daran und Blut und schöne grünschillernde Fliegen.”