Yaşar Kemal
Memed mein Falke
Deutsch von Horst Wilfrid Brands
Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal: Den türkischen Old Shatterhand auf einem echten Ritt durchs wilde Kurdistan
“Jeder Mensch wächst heran und entwickelt sich je nach dem Boden, auf dem er geboren wird. Memed war auf unfruchtbarem Boden herangewachsen. Tausendundeine Not hatten seine Entwicklung auf halbem Wege stillstehen lassen. Schultern und Beine waren nicht voll ausgeformt, seine Glieder glichen trockenen Ästen. Das Gesicht mit den ausgehöhlten Wangen war tief verbrannt von der Sonne. Er hatte etwas von der mit dem Boden verwachsenen Eiche.”
Klein, aber heroisch. Es geht schon mal damit los, dass er für tot erklärt wird, dieser junge Ince Memed. Dann taucht er aber wieder auf und wird bizarrerweise zum größten Held der türkischen Literatur, was nicht mal sein Erfinder so geplant hat. Noch 1955, als der als Journalist und Bittschreiber arbeitende Kurde Yaşar Kemal „Memed mein Falke“ veröffentlichte, war es ihm peinlich, seinen Namen darunter zu setzen. Bald löste er in seiner Heimat eine Art Memedemie aus: Der Rebell wurde für eine lebende Figur gehalten, seine Geschichte in Kaffeehäusern weitergesponnen und für einen Umsturz der türkischen Opposition 1960 verantwortlich gemacht. Heute ist der zahlreich übersetzte Roman wieder besonders in: Sein Autor wird am 6. Oktober 90.
Memeds Story basiert auf zahlreichen Gesprächen und Liedern anatolischer Bauern: Der Bauernjunge findet ungerecht, dass sein ganzes Dorf zwei Drittel der Erträge dem maßlosen und tyrannischen Großgrundbesitzer Abdi Aga abzugeben hat. Dass dessen Neffe das Mädchen Hatçe kriegen soll, das er immer geliebt hat, missfällt ihm ebenso. Flucht ist angesagt! Doch die läuft eher schief: Der Neffe kommt ums Leben, Hatçe gerät dafür wegen falscher Zeugenaussagen ins Gefängnis, und Memed schlägt sich alleine ins berüchtigt unwegsame türkische Gebirge. Dort schließt er sich der Räuberbande von Durdu dem Tollen an, der – ohne selbst zu wissen, warum – seinen Opfern sogar die Unterhose nimmt. Memed hat vor allem ein Ziel: Abdi töten und den Bauern ihren Grund zurückgeben.
Ja, der Plot nimmt sich gar simpel aus – wie die meisten großen Sagas von „Odyssee“ bis „Robin Hood“. Auch farbensatte Naturbeschreibungen und schwülstige Rachefloskeln reihen diesen Debütroman in die unerbittlichen Heldenepen der Literatur ein. Es gibt eine amüsant unfehlbare Hauptfigur wie Karl Mays Old Shatterhand. Es gibt einen hassenswerten Bösewicht wie bei Batman. Und schmückende Beinamen wie bei Homer: Die Männer heißen eindrucksvoll Osman der Mächtige, Hösük die Runkelrübe oder eben Memed mein Falke. Sie dachten, der Falke sei ein junger Römer? Nun, er ist ein junger Türke mit mythischen Superkräften!
KEMAL WEITER!
Memeds Fort(sch)ritte plus: eine besondere Kemal-Perle
„Die Disteln brennen“
13 Jahre nach Teil eins wagte sich Kemal an die Fortsetzung. Dem erfolgreich getöteten Abdi ist Hamza der Glatzkopf nachgefolgt, der die Bauern erst recht wieder unterdrückt. Ince Memed kommt ausgehungert und erschöpft bei Osman dem Mächtigen unter. Der versteckt ihn und gibt immer nur so viele Infos über ihn preis, dass die Bauernschaft Mut sammelt. Der Clou: Die meiste Zeit verbringt Memed, der zur absoluten Legende geworden ist, apathisch in einem Melonengarten. Die Handlung wird von den heroisierenden Mythen vorangetrieben, die um ihn kreisen.
„Das Reich der Vierzig Augen“
Memed hat die schöne Seyran geheiratet, die sich im zweiten Teil in ihn verliebte. Er will kein Rebell mehr sein. Aber seine Heldenaura ist zu stark, außerdem wurde Memeds Lieblingsfeind Hauptmann Faruk, auf seinen Kopf angesetzt. Der mit 720 Seiten umfangreichste Band der Reihe erschien 1984.
„Der letzte Flug des Falken“
Memed versucht, inkognito am Mittelmeer zu leben und den Duft von Orangen- und Zitronengärten einzuatmen. Aber was soll man tun, wenn ein Freund im Kampf gegen die Grundherren getötet wird? So erwacht noch einmal der Racheengel in ihm, bevor es auf Seite 666 heißt: „Von Memed dem Falken hat man nie wieder gehört, von ihm weder Zeichen noch Spuren entdeckt.“
„Salman“
Vom Stil her magisch wie die Memed-Romane, erzählt „Salman“ (1980) eine Geschichte, die es in sich hat und im Kern autobiografisch ist: Bevor sie ihn bekamen, dachten seine Eltern nämlich, sie könnten keine Kinder kriegen, und adoptierten einen Jungen, im Buch Salman genannt. Vor ihm – der schon mal im Stall dem Fohlen Liebesdienste erweist – fürchtet sich das ganze Dorf. Dass dann doch ein eigener Sohn geboren wird, schürt Salmans Eifersucht bis zum Vatermord.
BLUTIGROTES: BLUT, BODEN UND KEBAB – Zitate aus Yaşar Kemals Heldenepos
“Als er merkte, daß sein Kopf über die Disteln hinausragte, ließ er sich auf dem Boden nieder. Über seine Beine rieselte das Blut. Auf die blutenden Stellen strich er Erde. Die Wunden brannten wie Feuer.”
“,Komm heraus, Abdi!‘ brüllte Recep, ,oder du wirst gebraten wie Kebab!‘.”
“Die Erde von Alayar ist blutigrot. So sieht das Fleisch einer Melone aus, die man mitten durchgeschnitten und in die Sonne gelegt hat.”
“Memed trat an das Bett, packte ihn am Arm und schüttelte ihn. ,Aga, ich bin da!‘ Abdi Aga riß die Augen auf, er starrte einen Augenblick ungläubig. Dann stand das Entsetzen in seinen Augen, die nur noch das Weiße zeigten.”