Ein preisgekrönter Roman vom brasilianischen Autor Itamar Vieira Júnior wandelt auf den Verbindungslinien von Kolonialismus und Rassismus. Regisseurin Christiane Jatahy, frisch mit dem Goldenen Löwen der Biennale für ihr Lebenswerk ausgezeichnet, nutzt bei ihrer Inszenierung "Depois de silêncio" ("Nach der Stille") abermals ihr großes Händchen für das genre-verbindende Erzählen.
16. Juni 2022. "Auf der Erde werden immer die Stärksten überleben." Mit diesem Satz, Hoffnung und Resignation zugleich, endet der letzte der kraftvollen Verzweiflungsausbrüche an diesem Abend. Die Schauspielerin Gal Pereira spricht den Text, "beritten" vom Geist ihrer Ahnin. Oder der Ahnin ihrer Figur, das ist schwer zu sagen, denn die Romanvorlage zu Christiane Jatahys "Depois de silêncio" erscheint auf Deutsch erst im August.
Hinab ins unheimliche Tal
Der 2019 in Brasilien erschienene Roman Die Stimme meiner Schwester von Itamar Vieira Júnior hat im Original Preise und Tausende Leser:innen gesammelt. Dass in Jatahys Mix auch noch ein semidokumentarischer Film aus dem Jahr 1984 und selbst gedrehtes Material aus Chapada Dimantina in Nordostbrasilien hineinspielen, alles obendrein auf Portugiesisch mit Übertiteln, beseitigt alle Klarheiten restlos. Dennoch vermag der Abend mitzureißen. Wie, das ist wahrscheinlich Teil des Geheimnisses, das Christiane Jatahy den Goldenen Löwen der Biennale 2022 für ihr Lebenswerk einbringt.
Ihre Arbeiten, gerne zu Trilogien gefasst, zeugen von der gewitzten Fähigkeit der Regisseurin, Klassiker mit anderen Erzählungen einerseits, Theater mit Film andererseits zu verbinden. Auch für ihre Trilogie des Horrors über Gewalt gegen verschiedene Gruppen in Brasilien, die nicht erst unter dem aktuellen Präsidenten Jair Bolsonaro herrscht, begibt sich Jatahy ins unheimliche Tal lebensgroßer Videoprojektionen. Auf die Schweizer Produktionen Zwischen Hund und Wolf über Mechanismen des Faschismus und Before the Sky Falls über toxische Männlichkeit folgt nun als Weltpremiere im Rahmen der Wiener Festwochen der Abschluss "Nach der Stille", in dem es um die Verstrickungen von strukturellem Rassismus und Kapitalismus geht.