David Foster Wallace
Unendlicher Spaß
Deutsch von Ulrich Blumenbach
Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal: Ganz großes Tennis! Ein unbarmherziges Meisterwerk, das seinem Titel alle Ehre macht
“Die Stimme vom anderen Ende der Telefonleitung war nah, straff komprimiert und konzentriert ... auch wenn die eigene Aufmerksamkeit das nicht war, der Casus Knacksus des Ganzen. Diese bilaterale Illusion unilateraler Aufmerksamkeit des Sprechers war, von emotionaler Warte aus betrachtet, geradezu infantil beruhigend: Man durfte glauben, in den Genuss der ungeteilten Aufmerksamkeit eines Menschen zu kommen, ohne sie erwidern zu müssen. (...) Das Videotelefonieren ließ diese Fantasie kollabieren.”
So jung, und schon ein Klassiker: Erst 2009 erschien die deutsche Ausgabe des wahrscheinlich bedeutendsten US-Romans der Neunzigerjahre. Oder des Jahrhunderts. Sechs Jahre lang saß der Übersetzer Ulrich Blumenbach an den 1500 Seiten „Infinite Jest“ von David Foster Wallace, kämpfte sich durch hybride Wortkreationen, Beschreibungen bewusstseinsverändernder Substanzen und frankokanadisches Englisch – für heiße 3 Euro die Stunde. So viel Kult war wohl unbezahlbar.
„Unendlicher Spaß“ spielt in einer Zukunft, in der die Anfang der Neunziger noch üblichen Videokassetten durch Filmpatronen ersetzt wurden und die Kalenderjahre nicht mehr Nummern, sondern den Namen eines Sponsors tragen, was das Steueraufkommen erhöht (z.B. Jahr der mäuschenstillen Maytag-Spülmaschine). Den Titel „Unendlicher Spaß“ trägt innerhalb des Romans der letzte, als verschollen geltende Film eines gewissen James O. Incandenza, der, bevor er seinen Kopf in die Mikrowelle steckend Selbstmord beging, 1. Gründer einer Elitetennisschule, 2. revolutionärer Filmemacher, 3. Vater dreier Söhne war. Deren jüngster, Hal, besucht nun besagte Tennisakademie und bewältigt, körperlich wie geistig hochbegabt, seine vererbte Unfähigkeit zu Emotionen durch Kiffen, um dann auf kreativem Wege die verpflichtenden Urinproben zu fälschen.
Das Heikle an „Unendlicher Spaß“ (dem Film) ist, dass er zwar ein unkonventionelles Avantgarde-Kunstprodukt, aber so unterhaltsam ist, dass er den Zuseher vom Essen und Trinken abhält und dauerhaft lahmlegt. Daher begehrt auch eine kanadische Terroristenvereinigung die Masterkopie, um sie als Waffe einzusetzen.
Diese Definition ist haarscharf daran, auch für „Unendlicher Spaß“ (das Buch) zu gelten. Am 21. 2. 2012 würde D. F. Wallace 50, hätte er sich nicht im Herbst 2008 erhängt, Folge schwerer Depressionen eines genialischen Erzählers. Liest man sein Buch, wird tragisch verständlich, wie ein so voller, kluger, prophetischer Kopf irgendwann platzen musste.
VERSUCH EINES ÜBERBLICKS
Die Jagd nach dem „Unendlichen Spaß“ führt Figuren aus drei Einrichtungen zusammen.
Enfield Tennis Academy
Da ist mal die Familie Incandenza: Vater James, verstorben, unnahbarer Filmemacher, Gründer der E.T.A. Mutter Avril, zwänglich pedantisch, Frankokanadierin, wunderschön und in der Verwaltung der E.T.A. tätig. Sohn Orin, Frauenheld, einst Tennisstar, doch jetzt zum Football übergegangen. Sohn Mario, behindert und entstellt, tritt filmtechnisch in die väterlichen Fußstapfen, dreht E.T.A.-Dokus. Sohn Hal, eigentliche Hauptfigur des Romans: Kann das Lexikon der englischen Sprache auswendig, ist in der E.T.A.-Rangliste aber nur 2. hinter John „Nicht Verwandt“ Wayne, der mit Avril eine Affäre hat, die wiederum mit ihrem Halbbruder Charles Tavis eine Affäre hat, der die Schule mittlerweile leitet. Schulkollegen von Hal haben schmucke Namen wie Jim Troeltsch und Ortho „der Schatten“ Stice. Übrigens war Wallace selbst lange im Profitennisgeschäft.
Ennet House Drug and Alcohol Recovery House
(Redundanz? Absicht!) Gleich um die Ecke von der E.T.A. in Boston steht die Abteilung der Anonymen Alkoholiker bzw. Rauschgiftabhängigen. Hier lebt und arbeitet die zweite Hauptfigur, Don Gately, der unbewusst Dreh- und Angelpunkt der Suche nach der Masterkopie ist. Frisch eingeliefert wird Joelle Van Dyne, Ex-Verlobte von Orin und Darstellerin im ominösen Unterhaltungsfilm seines Vaters. Sie ist verschleiert, vielleicht wegen eines entstellten Gesichts, oder weil sie so schön ist, dass jeder sich automatisch in ihren Anblick verlieben würde.
Assassins des Fauteuils Rollents
Die Mörder in Rollstühlen sind eine Terroristenvereinigung auf der Suche nach der Masterkopie. Ihr Ziel: Abspaltung des französischsprachigen Québec von Kanada. Wichtigstes Mitglied: Rémy Marathe, ein Vierfachagent, der (um die Behandlung seiner ohne Schädel geborenen Frau zu finanzieren) mit dem Geheimdienst zusammenarbeitet, während die AFR denken, dass er nur vorgibt, das zu tun. Seine Kontaktperson, der Agent Hugh Steeply, verkleidet sich zu Recherchezwecken als Journalistin und macht sich so an den dauergamsigen Orin Incandenza heran... Unendlich kompliziert, unendlich spaßig.
UND ÜBRIGENS...
Die skurrilsten der 388 Anmerkungen im Anhang zu „Unendlicher Spaß“:
“2. Orin hat seinen Schatten notabene nie auf die Praxistür eines professionellen Psychotherapeuten fallen lassen, seine Reaktionen auf seine Träume sind von daher a priori immer ziemlich oberflächlich.”
“128. Wertvollster Lobber.”
“182. Auch bekannt als ,Kotzen’.”
“210. Hal und Mario mussten schon lange akzeptierena, dass Avril mit über fünfzig bei Männern immer noch endokrinologische Reflexe auslöst. a. Wobei ,akzeptieren’ selbstredend nicht mit ,begeistert sein von’ verwechselt werden darf.”
“216. Keine Ahnung.”