Erschlagt die Armen! – Die österreichische Filmemacherin Nina Kusturica inszeniert Shumona Sinhas autobiographischen Roman am Werk X in Wien
Wien, 13. Dezember 2018. Diesen Sommer lehnte ein österreichischer Asylbeamter den Antrag eines Afghanen ab, weil dieser sich nicht "schwul genug verhielt", obwohl er behauptete, daheim wegen Homosexualität verfolgt zu werden. Der Fall könnte auch aus Shumona Sinhas autobiografisch inspiriertem Roman "Erschlagt die Armen!" stammen. Der erschien in Frankreich freilich schon 2011. Die gebürtige Inderin dröselt darin harsch und sprachgewaltig die Absurditäten des Asylwesens auf. Ihren Job als Dolmetscherin bei der Flüchtlingsbehörde, den sie aus Liebe zur "Sprachgymnastik" angenommen hatte, ist sie seither los.
Aus dem Alltag einer Ex-Dolmetscherin
Derlei Brisanz motiviert natürlich Theateradaptionen. Die erste in Deutschland inszenierte Anne Lenk am Thalia Theater Hamburg, jene in Österreich besorgt nun Nina Kusturica im Werk X. Und fängt überraschend an: mit Italo-Schlager. Oliver Huether singt "Volare" und spielt dazu Gitarre, Veronika Glatzner als Beamtin gibt ihm Tipps zu Haltung und Mimik und presst ihm zwischendurch seine spektakuläre Fluchtgeschichte ab. Je mehr sie nachfragt, desto unglaubwürdiger wird die Mär. Als sie seine Füße begutachtet, stellt sie mit befriedigt schleimigem Lächeln fest, er habe sich ja gar keinen Zeh abgefroren. Aha!
Zwischen den Fronten steht als Dolmetscherin Sinhas Ich-Erzählerin und Hauptfigur, hier Kali genannt und gespielt von Zeynep Buyraç. Da es Theater ist, plappert sie freilich einfach auf Deutsch nach, was die anderen auf Deutsch sagen. Ein kaum aushaltbares Stakkato, das binnen kurzem klar macht, welch dysfunktionales System hier am Werk ist. Dass Kali später in der U-Bahn einen Mann mit einer Flasche attackiert, wird nachvollziehbar angesichts ihres Alltags, des Jobs, der Distanzierung von den Migranten-Eltern.
Dolmetsch-Match und Weltschmerz
Filmemacherin Nina Kusturica probiert sich mit „Erschlagt die Armen!“ am Theater aus
In Shumona Sinhas Roman „Erschlagt die Armen!“ sitzt die Ich-Erzählerin in einer Untersuchungszelle. Die Asyldolmetscherin, selbst Migrantin, hat einen dunkelhäutigen Mann in der Pariser Métro mit einer Flasche geschlagen. Im Laufe der Geschichte erfährt man, dass unter anderem der Blick hinter die Kulissen des Asylsystems sie dazu trieb. Der Roman erschien 2011, empörte die Franzosen und kostete die Autorin ihren Job – als Asyldolmetscherin.
Die Vorlage ist wie geschaffen fürs Werk X, das gern provokante Titel und brisante Stoffe anpackt. Dennoch erweist sich die Umsetzung als Überraschung. Regie führt nämlich Nina Kusturica, österreichische Filmemacherin bosnischen Ursprungs, deren Arbeit „Ciao Chérie“ kürzlich im Kino lief. Kusturica nutzt den kleineren, intimeren Saal im Kabelwerk und begnügt sich mit zwei Schauspielerinnen und einem Schauspieler. Ihre Inszenierung ist ernst, melancholisch und gar nicht angriffig.
Die Hauptrolle spielt Zeynep Buyraç, Veronika Glatzner und Oliver Huether übernehmen Erzählstellen und Beamten- bzw. Antragstellerfiguren. Alle drei sind durchgehend auf der Bühne und interagieren auch oft, scheinen aber dennoch jeweils eigene, geschlossene Spannungsfelder zwischen sich und dem Publikum aufzuziehen. So entsteht im Laufe der Zeit eine konzentrierte, bedeutungsschwangere Schwere, wie sie in diesem Haus selten zu erleben ist.
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