Hamm ist blind und kann nicht gehen, er thront zwischen morgendlichem Aufputsch- und abendlichem Beruhigungsmittel auf einem Sessel, genau in der Mitte des Raumes. „Es tropft. Es tropft in meinem Kopf“, sagt er. Sein Diener Clov kann nicht sitzen, und er ist dazu verdammt, gegen seinen Willen Hamms Befehle auszuführen, ihm den Spielzeughund zu bringen oder die Erde für ihn zu betrachten. In zwei Mülltonnen vorne links fristen Hamms Eltern Nagg und Nell ihr Dasein, die ihre Beine verloren haben. Sie stehen gerade so weit voneinander entfernt, dass sie es nicht schaffen, sich zu küssen. Es scheint keine anderen Menschen mehr zu geben, Endzeitstimmung herrscht, und alle sprechen auch ständig vom Ende, obwohl ziemlich klar ist, dass sie in Wahrheit in einer absurden Endlosschleife gefangen sind.
Das auf französisch verfasste „Endspiel“ des irischen Autors Samuel Beckett aus dem Jahr 1957 ist auf keine bestimmte Art und Weise aktuell oder heutig, ein Identifikationspotenzial mit den Figuren kann höchstens durch Assozitation entstehen. Vom Verlag ist vorgegeben, dass die vom Autor festgeschriebene Choreografie aus Bewegungen und Pausen zwischen den Sätzen, ja sogar die Details des Bühnenbilds bei keiner Inszenierung verändert werden. Für die meisten anderen Regisseure wäre das „Endspiel“ also ein undankbares Projekt. Nicht so für den 80-jährigen ehemaligen Intendanten der Münchner Kammerspiele und des Residenztheaters, Dieter Dorn. Er arbeitet für die Salzburger Festspiele und das Burgtheater jede einzelne Sekunde des Textes so fein heraus, dass man seinen Akteuren zweieinviertel Stunden lang gebannt an den Lippen hängt.
Diese Akteure tragen freilich die Hauptverantwortung dafür, dass Becketts Versuchsanordnung und sein melancholischer Nihilismus zum Leuchten gebracht werden. Der ehemalige „Jedermann“-Darsteller Nicholas Ofczarek lässt, gewohnt wortgewandt, vergessen, dass sein Hamm nur einen eingeschränkten Bewegungsradius hat. Joachim Bißmeier und Barbara Petritsch sind ein rührend tragisches Liebespaar, das an der Elternrolle und am Leben gescheitert ist und trotzdem nicht ohne einander auskommt. Und Michael Maertens hat man schon lange nicht mehr so konzentriert und brillant gesehen wie hier als Diener Clov. Wenn er gegen Ende dasteht und sagt: „Lass uns aufhören zu spielen!“, wirkt nur für einen Augenblick die ganze Groteske wie ein Theater-im-Theater, das auseinanderzufallen droht. Ein Gänsehautmoment an einem packenden Abend.
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