Eine Handvoll Kinder wuselt zwischen Regalen durch. Sie entnehmen ihnen Aktenordner, sprechen Sätze in alte Kassettenrekorder ein und stapeln beides in der Raummitte. Dann, während ihre Stimmen von den Kassetten erklingen, drehen sie die so entstandene Erinnerungsskulptur langsam im Kreis.
„Wenn sich das so dreht, krieg ich Kopfweh“, klagt ein Kind. „Dann machen wir jetzt eine Pause“, ordnet sofort der Theaterpädagoge an, der zusammen mit Ko-Regisseurin Victoria Halper die Aktion angeleitet und beaufsichtigt hat. Ein anderes Kind geht auf Krücken. „Sie hat sich aber nicht bei uns verletzt!“, versichert Halpers Regiekollege Kai Krösche erschrocken. Es sind sensible Zeiten.
Der Falter ist dabei, als diese Szene des aufwändigen Theaterprojekts „Heimweh“ zum ersten Mal geprobt wird. Das Wiener Kollektiv Darum, bestehend aus Halper, Krösche und der derzeit karenzierten Laura Andreß, verarbeitet in der dreiteiligen Performance-Installation seine Recherche zu den schockierenden Zuständen in Österreichs Kinderheimen ab Mitte des 20. Jahrhunderts.
Nachdem der Kurier-Journalist Georg Hönigsberger 2011 die ersten Fälle in Wien ans Licht gebracht hatte, meldeten sich unzählige Opfer von sexuellem Missbrauch und Prügeln, aber auch einfach von inakzeptablen Erziehungsmethoden. Die daraufhin eingesetzte Kommission ortete eine „historische Katastrophe von unfassbarem Ausmaß“. Das Team hat Hönigsberger interviewt, ebenso wie mehrere Betroffene im Alter von Anfang 50 bis über 80.
Die Performance möchte der Vielschichtigkeit des Skandals gerecht werden. Einzelnen Erziehern, die sich an Kindern vergingen, stehen Leuten gegenüber, die versuchten, die Situation zu verbessern. Sie prallten an den starren Strukturen ab, die die Verbrechen so erst ermöglichten. Die Missstände waren schon früh bekannt, interessierten aber lange niemanden. Halper: „In den Fünfzigern war die Gesellschaft noch nicht so kinderlieb wie heute.“
Auf das Thema stieß die Gruppe im Zuge ihrer gefeierten Debütarbeit „Ungebetene Gäste“ 2019, die das Publikum an den Wiener Zentralfriedhof führte. An jedem Aufführungstag wurde das Leben einer verstorbenen Person, für die die Stadt Wien ein sogenanntes „einsames Begräbnis“ organisiert hatte, rekonstruiert. Einer der „Protagonisten“ war lange obdachlos gewesen. Die Spurensuche in seiner Vergangenheit führte ins Kinderheim. Viele ehemalige Heimkinder, so erfuhr Darum, hätten Schwierigkeiten, im Leben zurechtzukommen.
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