WIDER DEN STAUBZUCKER – Nachtkritik aus dem Werk X Wien
lonely ballads EINS + ZWEI – Werk X Wien – Martin Grubers aktionstheater ensemble umkreist das Jahresthema Isolation
Wien, 16. Juni 2021. "And I know: the future is already gone. Fill my heart with stones", geht die letzte "lonely ballad", immer wieder, bis das Licht erloschen ist. Dass man am Ende eines gelächterreichen Abends schön traurig hinausgehen würde, hatte man geahnt. Sonst ist aber manches anders als gewöhnlich beim aktionstheater ensemble.
Vier in eins
Mit verlässlicher Regelmäßigkeit bringt Österreichs profilierteste freie Theatergruppe zwei Uraufführungen im Jahr heraus. Aktuelle gesellschaftliche Stimmungen umkreisend und an eigene Erfahrungen angelehnt entwickeln die Spieler:innen Texte, die Regisseur Martin Gruber und Dramaturg Martin Ojster zu musikalisch getakteten Abenden anordnen. Der lange Lockdown führte zu einem Produktionsstau, sodass statt zwei Stücken ein zweiteiliges konzipiert wurde. Die Premiere in Grubers Heimat Vorarlberg Ende Mai fiel wegen eines falschen Covid-Verdachts aus, sodass die Gastspiele im Wiener Werk X die Uraufführungsserie von "lonely ballads EINS + ZWEI" darstellen.
Ein Zweieinhalb-Stunden-Abend mit Pause, hat es das vom knackigen aktionstheater in diesem Jahrtausend überhaupt schon gegeben? Überhaupt sind es in Wirklichkeit vier Stücke, denn da es um das Jahresthema Isolation geht, schickt Gruber seine Spieler:innen folgerichtig nacheinander auf die Bühne. Einander begegnen sie dort nie, und von der sechsköpfigen Band, deren Mitglieder sie oft namentlich ansprechen, trennen sie coronakonform Wände aus halbtransparent schimmerndem Stoff. So dürfen sie diesmal ungewohnt kampflos im Rampenlicht glänzen.
Präcoronaler Waschzwang
Erst Isabella (Jeschke), dann Thomas (Kolle). Bei beiden dreht es sich um Geld und Nachwuchs. Sie hat "wegen der ganzen Hilfen" gerade so viel Geld wie nie und denkt deshalb gleich über eine Eigentumswohnung nach, er schildert die ungerechte Haushaltsgeldnutzung in der Beziehung. Während Isabella schwanger ist, dies aber erst am Ende ihres Monologs zugibt (nachdem das bewusst enge Kleidchen einen die ganze Zeit grübeln ließ), beklagt Thomas, wiewohl glühender Feminist (zu Ehren seiner Ex hat er sogar ihre Unterwäsche an), die Benachteiligung von Männern mit Kinderwunsch. Im letzten Urlaub mit seinen Kumpels habe die Gruppe sich schließlich zur gemeinsamen Adoption entschlossen.
„DEUTSCH IST EINE WUNDERBARE SINGSPRACHE“ – Interviews mit Marlene Monteiro Freitas und Sofia Jernberg im Falter 24/21
Festwochen-Intendant Christophe Slagmuylder hat sich an einem Experiment versucht. Er spannte die kapverdische Choreografin Marlene Monteiro Freitas mit der schwedischen Sängerin Sofia Jernberg und dem Klangforum Wien zu dem Arnold-Schönberg-Abend „Pierrot lunaire“ zusammen. Sie kannten einander vorher nicht. Der Falter hat die beiden Künstlerinnen getrennt voneinander befragt.
Falter: Frau Freitas, wer ist Pierrot lunaire?
Marlene Monteiro Freitas: Eine sehr menschliche Figur. Sie betritt eine Dunkelwelt, wie wir sie alle kennen: Schuld, Sehnsucht, Intimität. Ihre kindliche Grausamkeit dient ihr als schöpferische Kraft.
Ist es das erste Mal, dass Sie von einem klassischen Musikstück ausgehen?
Freitas: In diesem Format ja. Von literarischen Werken bin ich aber schon ausgegangen. Mein Arbeitsprozess ist also ähnlich. Anders ist höchstens, dass ich ohne Tanzensemble auf der Bühne arbeite, nur mit Musikerinnen und Musikern. Musik gibt einen ganz anderen zeitlichen Rahmen vor. Wir müssen viel schneller arbeiten.
Was machen Sie denn als Choreografin ohne Tänzer?
Freitas: Ich choreografiere alle anderen, die Sängerin und das Orchester. Bei der Uraufführung von „Pierrot lunaire“ war nur die Sängerin auf der Bühne, die Musiker waren gar nicht zu sehen, wie Gespenster. Für mich war von Anfang an klar, dass alle auf der Bühne ein Pierrot sind, einschließlich der Sängerin und des Dirigenten.
Was finden Sie spannend an „Pierrot lunaire“ von Arnold Schönberg?
Freitas: Die Musik hat sich mir erst erschlossen, als ich die Gedichte von Giraud gelesen habe, auf denen sie beruht: Es ist sehr aufschlussreich, wie Schönberg die 21 Gedichte ausgewählt und angeordnet hat, die Pausen zwischen den Liedern. Schon beim Schreiben des Gesangs ist er in die Absichten und Empfindungen der Lyrik vorgedrungen. Er war praktisch schon mein Dramaturg! Schönberg hatte Giraud – in Übersetzung natürlich –, wir haben Schönberg und Giraud.
In welcher Sprache haben Sie die Gedichte gelesen?
Freitas: Französisch, Englisch, Portugiesisch. Dargeboten werden sie allerdings auf Deutsch, einer Sprache, die ich nicht beherrsche. Aber ich kann ja auch keine Noten lesen. Herausforderungen auf allen Ebenen!
Wie klingt Deutsch für Sie?
Freitas: Wie Percussion. Schönberg wollte, dass der Gesang ein gleichberechtigtes weiteres Instrument im Ensemble ist. So wie er ihn geschrieben hat, wie geatmet wird, das gibt schon die körperliche Betätigung vor. Es ist eine Intention, eine Emotion. Normalerweise ist da ein Wort und man muss sich bemühen, seinen Sinn zu verstehen. Aber wie er die Wörter angeordnet hat, ist der Sinn schon da.
Mehr im Falter 24/21
HADER STIRBT NIE: EIN MEISTERSTÜCK AN MELANCHOLISCHEM ZYNISMUS – Kritik im Falter 24/21
Unglaubliche 17 Jahre hat Josef Hader gebraucht, um nach „Hader muss weg“ ein neues Kabarettprogramm auf die Beine zu stellen. Zuvor waren seit dem Kultstück „Privat“ „nur“ zehn Jahre vergangen. Auch in „Hader on Ice“ geht der heute 59-jährige von vermeintlich biografischen Ereignissen aus. Er halte es in Wien nicht mehr aus und lebe jetzt im Weinviertel, erklärt er eingangs, der Toskana Österreichs – „genauso überschätzt.“
Die Kunstfigur, die zu uns spricht, ist Josef Hader, der viel zu erfolgreiche, reiche Prominente, der jeden Bezug zur Realität verloren hat, im Suff Gespräche mit einem Wolf halluziniert, aber immer noch im Brustton der Überzeugung meint, die Schlechtigkeit der Menschheit oder die Zerstörung des Klimas anprangern zu dürfen. Seine junge Frau habe ihn verlassen, erfahren wir später, und dass er den nigerianischen Bettler, der immer vor seinem Supermarkt sitzt, geringfügig angestellt habe – als Diener.
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