Mary Shelley und ihr apokalyptisches Pestepos: Trotz seines einschlägigen Themas erfuhr „Der letzte Mensch“ bisher keine Covid-bedingte Renaissance. Warum bloß?
Sie setzten sich vor ihre Computerkameras und streamten sich, wie sie „Die Pest“ von Camus lasen. Sie inszenierten Boccaccios „Dekameron“. Defoes Bericht von der „Pest in London“ lasen sie mit neuen Augen. Den Seuchenroman, der – zugegeben: hauptsächlich von seinen Verlegern –, als erste Dystopie der Weltliteratur bezeichnet wird ließen sie schmählich im Regal stehen. So lautet die gute Nachricht am Rande der schier endlosen Corona-Pandemie, dass Mary Shelleys 1826 als „The Last Man“ erstmals erschienenes Schmerzenswerk es in der deutschen Neuübersetzung von Irina Philippi auf den Buchmarkt geschafft hat, bevor das Thema der Ausrottung aller (abzgl. eines) Menschen per Weltkrankheit als gestrig abgetan werden kann. Die angehängten Kommentare von Rebekka Rohleder und Dietmar Dath verweisen dementsprechend auch auf die aktuelle Situation.
„Der letzte Mensch“ ist eine ziemliche Kuriosität, schon weil die ganze Geschichte, die von 2073 bis 2100 spielt, in einer Einleitung als 1818 entdeckte sibyllinische Prophezeiung dargestellt wird. In Sachen technologische Entwicklung war die Verfasserin entweder sehr pessimistisch oder arg fantasielos: Ihrer eigenen Epoche gegenüber geändert hat sich eigentlich nur, dass Heißluftballone steuerbar sind.
Bemerkenswert und möglicherweise für die Außerachtlassung des Textes als pandemische Literaturbeilage mitverantwortlich ist auch seine Dramaturgie: Erst im letzten Zwanzigstel wandelt Lionel Verney tatsächlich als letzter Mensch durch Italien, und erst in der zweiten Hälfte des Romans bricht die Pest über die Welt herein.
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