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Martin Thomas Pesl – Autor, Übersetzer, Sprecher und Lektor

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DER TOD DES VERGIL – Blitz-Bildung im WIENER 403

July 20, 2015 Martin Pesl
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© Suhrkamp Verlag

Hermann Broch

Der Tod des Vergil

Suhrkamp, € 14,00

ISBN: 978-3518388662

Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal: Ein Heimkehrbuch eines Wiener Auswanderers und die längsten letzten Worte aller Zeiten

“,Du bist Vergil.‘
,Ich war es einstens; vielleicht werde ich es wieder sein.‘”

Ausgesprochen. Wenn der Tod des Vergil am Ende endlich eintritt, sieht der große Dichter zu allerletzt das Wort entgleiten, bis es „jenseits der Sprache“ ist – so die letzten Worte des Romans. Bis Vergil also buchstäblich mit seinem Latein am Ende ist, hat er auf 450 dicht bedruckten Seiten mit dieser Sprache allerlei angestellt und ihre Möglichkeit derart ausgereizt, dass sie, die Sprache, früher oder später ins Jenseits übergehen musste: lange, lange Sätze, abstrakte Gedankenwindungen, innerer Monolog: Dichtung höchster Geschliffenheit.

Danke, Vergil, aber vor allem: danke, Hermann Broch. Der eigenwillige Autor ersann die Fiktion über den (natürlich seinerseits historischen) römischen Dichter Publius Vergilius Maro, der zum Sterben in den Palast seines Kaisers Augustus zurückkehrt. Als er unterwegs das Elend und Proletariat auf den Straßen des römischen Festlands erblickt, ist Vergil entsetzt und sieht sich gezwungen, von seinem elfenbeinernen Turm herabzusteigen und ein Opfer zu bringen: nämlich sein Hauptwerk, das Epos „Aeneis“, zu verbrennen.

In den nun folgenden letzten 18 Stunden braucht es dann nicht nur gute alte Freunde und die Fata Morgana eines mysteriösen Knaben, in dem sich Vergils eigene Jugend spiegelt, sondern das gute Zureden des Kaisers persönlich, damit der Literat von dieser neuerlichen (feuerlichen) Schrulle ab- und die „Aeneis“ dem Volke überlässt.

Die Dichterdichtung ist das Hauptwerk des 1886 in Wien geborenen Hermann Broch. Als er 1936 daran zu arbeiten begann, lebte er noch in Österreich, im Zuge des „Anschlusses“ an Hitler-Deutschland floh der gebürtige Jude ins Exil in den USA. „Der Tod des Vergil“ erschien somit auch in New York, und zwar gleichzeitig auf Deutsch und in englischer Übersetzung. Die Frage, wie viel hohe Kunst im Angesicht der miserablen Realität noch okay ist, war damals, im letzten Kriegsjahr, hochaktuell und ist es gewissermaßen heute wieder. Die Frage, wie wertvoll Brochs hohe Sprachkunst eigentlich ist, ist immer wieder Gegenstand wissenschaftlicher Dispute, an denen sich auch der Autor selbst – noch vor dem Erscheinen seines Romans! – in diversen Kommentaren beteiligte. Bei aller Kritik stieß sein Werk letztlich weltweit auf Bewunderung. Dass er 1951 den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam, verhinderte womöglich nur eines: der Tod des Hermann Broch.


LATEINSTUNDE
BROCH FIKTIONALISIERT REALE FIGUREN AUS ROMS GESCHICHTE

Vergil
Publius Vergilius Maro (70–19 v. Chr.) war der wichtigste Autor der römischen Antike, Verfasser u.a. der „Bukolika“. Er starb, ohne sein Hauptwerk zu vollenden: die „Aeneis“, ein odysseenähnliches Epos über die Wanderjahre eines Troja-Kämpfers. Im Mittelalter wurde er zum Vorboten des Christentums hochstilisiert, Schüler humanistischer Gymnasien kämpfen sich mit allerlei Schmierern ausgestattet durch sein Werk. Zudem gab Vergil nicht erst für Hermann Broch einen beliebten Handlungsträger ab: Schon Dante ließ ihn in seiner „göttlichen Komödie“ prominent in Höllenkreisen auftauchen.

Plotia
Bei Broch erscheint die einstige Geliebte dem Dichter in seinen zahlreichen Fieberträumen. Über Plotia Hieria ist wenig bekannt, auch dass sie mit ihm zusammenlebte, gilt eher als Gerücht, vor allem da Vergil wie viele Dichter der Antike eher der Knabenliebe anhing. Der Name bedeutet jedenfalls „Wölfin“, weshalb gemutmaßt wird, Plotia könnte auch eine Prostituierte gewesen sein.

Plotius Tucca und Lucius Varius Rufus
Die beiden besten Freunde Vergils sind als dessen Nachlassverwalter verbürgt, die tatsächlich nach seinem Tode die „Aeneis“ herausgaben. Varius war selbst Dichter, von Tucca vermutet man Ähnliches. Auch in Brochs Roman trägt Vergil seinen Spezis am Ende auf, eine tadellose Abschrift des unfertigen Epos zu erstellen.

Augustus
Gaius Octavius (63 v. Chr. – 14 n. Chr.) war unter dem Namen Augustus der erste wirkliche Kaiser von Rom. Der Großneffe Julius Cäsars setzte sich in den Machtkämpfen nach dessen Tod durch und leitete daraufhin eine längere Friedensphase in der römischen Geschichte ein. Er galt als großer Förderer der Kunst und der Dichtung, schrieb selbst und – das hob ihn von anderen Kreativdespoten ab – erkannte, dass es nicht gut war.


BROCHIERTES: JENSEITS DER SPRACHE
Einige der kürzesten Sätze aus dem „Tod des Vergil“

“Oh, das Irdische!”
— S. 61
“Hatten sich Worte in seinem Munde geformt? er wußte es kaum, er wußte es nicht und war trotzdem nicht erstaunt, als ein Widerhall kam, fast eine Antwort: ,Du riefst?!‘, so tönte es zart und vertraut, fast heimatlich aus einem Nirgendwo, unerahnbar nahe oder unerahnbar fern.”
— S. 170
“Ach, mag der Literat in seiner Schwäche sich auch vorgaukeln, daß die Kindheitslandschaft, nach der er vielleicht sich sehnt, die Unendlichkeit saturnischen Gefildes sei und daß er von hier aus die Tiefen des Himmels und der Erde belauschen werde, seine ihm wahrhaft eigentümliche Leidenschaft ist die der schieren Flachheit, und er belauscht nichts, am allerwenigsten den Tod; ...”
— S. 237
“,Seine Zeit ist um‘, sagte der Riese, und fast war es wie ein Lächeln, ,ich tue ihm nichts an‘, die Zeit tut es.‘”
— S. 382

In Autor Tags Blitz-Bildung, Roman, Rezension, WIENER

SPINNEN, BIS DER HITLER KOMMT – Rezension zu Dorothea Zemanns „Das Rapportbuch“ im bellelit 2

July 7, 2015 Martin Pesl
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© Edition Atelier

Spinnen, bis der Hitler kommt

Über „Das Rapportbuch“ von Dorothea Zemann

Die längst Genesene, die weiter simuliert, damit der Oberarzt sie verhätschelt. Der hypochondrische Schauspieler, der am liebsten in den Mutterleib zurückkriechen möchte. Die klatschenden und tratschenden Schwestern und die sich als Götter in Weiß pudelwohl fühlenden Ärzte. Diese liebevoll überspitzten Krankenhausgestalten, die uns heute in mehr oder weniger ernst gemeinten Arztserien unterhalten, hat Dorothea Zemann in ihrem 1959 erschienen Roman „Das Rapportbuch“ in literarischer Form verknüpft. Unbarmherzig ist ihr Blick auf die unverbesserlichen Egozentriker, bissig beschreibt sie ihr meist selbstverschuldetes Unglück.

Dass die Autorin (1909 – 1993) auf eigene Erfahrungen aus der Arbeit als Krankenschwester in der Psychiatrie zurückgreifen konnte, trägt sicher auch zur Lebhaftigkeit ihrer miteinander versponnenen Spinnergeschichten bei. Bevor man diese jedoch schlicht als gelungenes Vorzeit-„Scrubs“ abtun kann, schleicht sich die Zeit ins Bewusstsein. „Die Medizinmänner können dem jungen Menschen die Begegnung mit der eigenen Zeit und ihren Gespenstern nicht ersparen.“ Denn der ganze Irrsinn spielt sich in Wien ab, in den Monaten vor dem Anschluss an Hitler-Deutschland im März 1938. Und ist dadurch plötzlich gar nicht mehr so lustig. Nun wird jede Psychose zum Symptom der Verdrängung, jede sorgsam bereitgehaltene Giftspritze eine verständliche Waffe gegen den hereinbrechenden Untergang.

Aber Dorothea Zemann wäre des dämonischen Doderers, ihres damaligen Liebhabers, nicht würdig, wären ihre Giftspritzen nicht auch sprachlicher Natur und somit wahnsinnig witzig. Die Neuauflage des galligen „Rapportbuchs“ im Zeitalter der Neurosen einerseits und des großen Kriegsgedenkens andererseits schafft eine passende Therapie für Nostalgiker.

 Auch zu lesen im Textlicht-Verlagsblog ...

In Autor Tags Buch, Rezension

EINE STORY, DIE SIE NICHT ABLEHNEN KÖNNEN – Text im WIENER 402

July 6, 2015 Martin Pesl
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Marlon Brando, nicht abzulehnen. © moviepilot.de

Eine Story, die Sie nicht ablehnen können

Welche Italiener Mann sich zum Vorbild nehmen sollte – und warum man trotz aller Italophilie dabei nicht auf den Dude vergessen darf

Italiener sehen immer gut aus, auch wenn sie gewalttätige Killer, Kämpfer oder KO-Schläger sind. Wie machen sie das? Aufschluss geben legendäre Filme aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, aber auch von davor und danach. Filmhelden mit italienischem Blut sind beliebte Zitateschleudern, nach denen wir, ohne es zu merken, unsere Coolnessansprüche ausrichten. Ein paar unvergessliche Typen zum Nachmachen.

***

CORLEONE-STYLE

Gefürchtet und einfach cool

„Ich werde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann.“ Um diesen legendären Satz sagen zu können (und dabei ernst genommen zu werden), braucht es eine gehörige Portion Autorität. Marlon Brandos Don Vito Corleone (nur etwas weniger kultig: Robert De Niro in Teil II) und sein Sohn Michael (Al Pacino) haben das Bild des mafiösen Überdrüberoberhaupts geprägt. Die Familie geht über alles, jede einzelne Regung im Gesicht ist kontrolliert, meist ist die Mimik gänzlich eingefroren, die Mundwinkel sind nach unten gezogen. Erlauben Sie sich ja keine Farbe in der Kleidung, aber sich die Anzüge maßschneidern zu lassen wäre eine gute Idee – man will sich ja keine Blöße geben.

Und dann dürfen Sie immer wieder mal mit dem Handrücken vom Kehlkopf bis zum Kinn entlangstreichen, um auszudrücken: Ich weiß es nicht, es interessiert mich nicht, und falls mir die Hand ausrutscht und nach vorne flutscht, habe ich mir damit eine der kränkendsten Gesten italienischen Geistes geleistet. „Stronzo!“ Aber das ist schon zu viel Emotion. Lieber lasse ich dich in aller Eleganz umbringen.

So gefürchtet und grausam die italienische Cosa Nostra ist – noch heute in Italien selbst (speziell Sizilien) und in New York City –, so sehr haben wir sie durch Francis Ford Coppolas Filme lieben gelernt. Der Godfather in uns möchte herrschen, aber ohne großen Aufwand. Er möchte geliebt und gefürchtet werden und dabei makellos aussehen. Er ist einfach cool.

***

ROCKY BALBOA

Der italienische Hengst

„Rocky“, also steinig ist auch der Weg, den dieser Boxer bis zum Triumph hinter sich bringen muss. „The Italian Stallion“ nennen sie ihn wegen seiner Vorfahren, und er ist eine echte Kämpfernatur. Will man es als Mann lieber ohne Corleone, ist auch Rocky ein gutes Vorbild. Also erst einmal ein bisschen trainieren, dann noch ein bisschen mehr trainieren. Dann so aussehen wie Sylvester Stallone in den Siebzigern (und sich passende Kleidung zulegen – vielleicht ein rotes Sakko, vielleicht auch lieber nicht). Dann sich nicht einschüchtern lassen von großen Namen und überschätzter Professionalität. Die Verhältnisse, in die man hineingeboren wurde, hinter sich lassen, jede Chance ergreifen und das Beste daraus machen. Denn: „Keiner kann so hart zuschlagen wie das Leben, was zählt, ist nur, wie viele Schläge man einstecken kann und trotzdem weitermacht.“

***

DIE BESTEN AUS DEM WESTERN

Bud Spencer und Terence Hill

Wer auch außerhalb des Rings die Fäuste gerne parat hat, ist im Italo-Western der Sechziger und Siebziger am besten aufgehoben. „Vier Fäuste für ein Halleluja“, der Titel sagt schon einiges über die Temperatur aus, die hier herrscht. Man suche sich also einen zweiten Italiener mit Sportvergangenheit – ja, Bud Spencer und Terence Hill sind eigentlich die Schwimmer Carlo Pedersoli und Mario Girotti – und werde beste Freunde, sodass man einander die Sätze beendet, aber eigentlich generell nicht so viel reden muss. Anschließend lege man sich ein paar Kilos zu (per Muskeltraining, aber auch per Spaghetti) und begebe sich in ein paar lustige, harmlose Prügeleien – nach dem Motto: Es geht auch ohne Waffen; wozu ein Colt, wenn die Fäuste Kult sind? Wichtig dabei: den Humor nicht vergessen! Wozu hat man schließlich Freunde?

***

MARCELLO

La dolce Vita

Wer beneidet heute noch Journalisten und Fotografen? Menschen, die sich an Marcello im Fellini-Film „Das süße Leben“ erinnern. Mastroianni der Name des Schauspielers, Rubini jener der Hauptfigur. Natürlich im Anzug, trotz größter Hitze Roms, aber ohne Schweißtropfen – das ausschweifende Leben der Stars dokumentierend, aber auch miterlebend, draußen und drinnen gleichzeitig. Von schönen Frauen benetzt (Anita Ekberg im Trevi-Brunnen) und selbst in seiner Verletzlichkeit und seinem Überdruss noch erhaben wirkt dieser Marcello in einem melancholischen Film, den man nicht vergisst. Und mit dem noch eine stiltechnisch bittere Erkenntnis verbunden ist: So schade, dass man im echten Leben nicht schwarz-weiß sein kann. Das würde vielen von uns viel besser stehen.

***

DER DUDE

Unser aller wahrer Held, auch wenn er wirklich kein Italiener ist

„Ich bin nicht Mister Lebowski“, sagt Jeffrey Lebowski. „Du bist Mister Lebowski. Ich bin der Dude.“ An diesem Mann ist wirklich nichts Italienisches – und das ist wahrlich befreiend! Der Taugenichts aus Kalifornien lebt für seine Bowlingleidenschaft und lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Die Wohnung so versifft wie die Kleidung, die Karriereaussichten so trüb wie der White Russian, den er gerne trinkt. Einen wie den Dude hat es vorher nicht gegeben. Einen, der nicht weiß, welcher Wochentag ist. Einen, nach dem kein Hahn kräht und der nur zur Hauptfigur wird, weil zufällig ein einflussreicher Reicher den gleichen Nachnamen hat. Jeff Bridges und die Coen-Brüder haben den Antihelden der Antihelden erschaffen, der es trotzdem schafft, dass wir Männer manchmal so sein wollen wie er. Weil wir uns vorstellen, wie traumhaft es wäre, würden die Frauen auf einen Dude abfahren. 

In Autor Tags Magazin, Film

HORCYNUS ORCA – Blitz-Bildung im WIENER 402

June 18, 2015 Martin Pesl
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© S. Fischer

Stefano D'Arrigo

Horcynus Orca

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

S. Fischer Verlag, € 58,00

ISBN: 978-3-10-015337-1

Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal: der neue Killerwal unter den Wälzern – ein mythenumranktes Sprachkunstwerk aus Sizilien 

“Sie ruderte für hundert, sie durchharkte das tote Gewässer bündelweise, zerdrückte und zermalmte es, um darin ihre Flucht zu graben, im Flug legte sie eine vielleicht zweihundert Meter lange Meeresstrecke zurück, und am Ende machte sie eine weit ausholende Kehre, um die Richtung zu ändern: Bei dieser derart risikoreichen Vorgehensweise orientierte sie sich mit einer so staunenerregenden Sicherheit, als würde ein unsichtbarer Vollmond am Himmel einzig für sie glänzen.”

„Damn lucky Germans!!“ Das schreibt ein neidischer Amerikaner auf der Bücherplattform Goodreads über „Horcynus Orca“. Denn obwohl Stefano D’Arrigos 1454-Seiten-Opus schon seit 40 Jahren als großer Klassiker der Weltliteratur gilt, liegt es bisher erst in einer einzigen Übersetzung vor: ins Deutsche. Und das auch erst seit heuer. Alle außer dem engagierten Moshe Kahn und seinem Herausgeber Egon Ammann hielten das Werk bisher für unlesbar und unübersetzbar. Verständlich, enthält es doch über 2000 Wortneuschöpfungen und ist in einem Gemisch aus Hochitalienisch und diversen sizilianischen Dialekten verfasst, das einen gleichzeitig einlullt und ängstigt, so wie die Wellen der unruhigen See. Na, viel Erfolg.

Aber Moshe Kahn hat es geschafft und dafür gleich ehrenwerte Preise eingestrichen. Acht Jahre hat er gebraucht, immerhin nur halb so lang wie der Autor für die „Überarbeitung“ seiner ursprünglich 100-seitigen Geschichte, in deren Verlauf er über 1000 Seiten hinzufügte. „Ulysses“ trifft hier „Moby Dick“ und wieder Ulysses, sprich: Odysseus.

Ein solcher ewiger Heimkehrer (obwohl er eigentlich netto nur acht Tage braucht) ist D’Arrigos Hauptfigur Moses ’Ndrja Cambria, Soldat aus Sizilien, der während des Zweiten Weltkriegs seine Marineeinheit verlässt und über die Meerenge zwischen Skylla und Charybdis nach Hause in sein Heimatdorf möchte, wo sein Vater und seine Verlobte auf ihn warten. Dabei begegnet er einer Reihe mythologisch angehauchter Gestalten: etwa der verführerischen Bootsbesitzerin Ceccina Circé und einem Malteser, der Ruderer für eine Regatta rekrutieren möchte. Und vor allem: unzähligen Fischen und Delfinen, genannt Feren („die Wilden“), und einem gigantischen Meereskoloss: dem Orcinus Orca oder Orcaferon oder Tiergiganten. Ihn als Killerwal oder Schwertwal zu beschreiben, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Dieses Monstrum, das das letzte Drittel des Romans regiert, ist größer als das Meer, größer als das Leben, sodass nur ein Ozean an Worten ihm beikommt: ein maritimer Superlativ wie dieses ganze Buch – org, Orca, „Horcynus Orca“.


ARKALAMEKK UND CO.
DIE SCHÖNSTEN WORTKREATIONEN VON D’ARRIGO/KAHN

Erohräugen
Seinem Autor zu Ehren schöpft Übersetzer Moshe Kahn Wörter, dass einem Hören und Sehen vergeht. Die, bei denen es ums Hören und Sehen geht, sind dabei besonders hübsch. So stellt er immer wieder das Hörengesagte dem Mitdenaugengesehenen gegenüber, und aus „oreocchiare“ werden das „Erohräugen“ und in weiterer Folge die „Ohraugen“.

Pomponade
Was wie buntes Gel in den Haaren klingt, macht sich auch als Ausdruck für Firlefanz und Affentheater ganz gut. D’Arrigos ursprüngliche Wortschöpfung lautet „pomponella“. Das französische Wort für Quaste, „pompon“ steckt auch drinnen.

Fere
Heftige Diskussionen entbrennen zwischen den Matrosen, ob die flinken Fischwesen, die sie umströmen, nun einfach schnöde Delfine oder zauberhafte Feren sind. Auf Sizilianisch sind Delfine „feruni“, aber auch der lateinische Wortstamm für „wild, ungezähmt“ ist hier zu finden. Also: Eine Fere ist ein Delfin, aber eigentlich auch nicht. Denn der Delfin bleibt in den Köpfen lieb und lustig, und der Fere komm besser nicht in die Quere.

Chinesischesdingsda
Hierbei handelt es sich um das männliche Genital. „Dingsda“ ist klar (und passt auch zum weiblichen Gegenstück, dem „Dingding“ oder „Glöckchen“, mit dem die kecke Ceccina Circé sogar die wilden Feren zähmt), warum es chinesisch ist, kommt einem ohne Italienischkenntnisse jedoch etwas spanisch vor.

Arkalamekk
Was für ein wundervolles Wort! Es bedeutet etwas Seltsames, Faszinierendes, Köstliches, Doppelbödiges, Dunkles. In dem Wort verbindet sich Mekka, Glücks- und Sehnsuchtsort, mit der Arche, dem archetypischen (!) Boot aller Boote. 


WER DEN WAL HAT, HAT DIE QUAL – Zitate zum Seekrankwerden

“Ein Koloss von einem Körper, um die fünfzehn Meter lang und einige Tonnen schwer, von fetter Haut, die dampft wie erkaltende Lava und schwitzt so gemeine Düfte aus, dass man meint, alle seine Funktionen würde er mittels Ausschwitzen durch die Poren seiner Haut erledigen;(...).”
— S. 837
“Und in dieser Niederkunft der Winzlingsaale, in diesem Getropfe geheimnisvollen Lebens, das aus jeder Falte, jedem Riss, jedem Spalt und jedem Wundkrater hervorquoll, als würde alles aus der Haut hervorschwitzen, hatte der tote Orcaferon noch etwas von einem lebendigen Orcaferon, etwas Lebendiges, Ungeheuerliches, etwas, das den Tod brachte.”
— S. 1370
“Jetzt ruderten die Milchbärtigen verschwommen in dunkelster Dunkelheit, sie waren nur Schatten mehr, die ohne Arme noch Hände über den Rudern wogten, wie eine leichte, machtvolle, gewundene, nicht aufzuhaltende Kruppe eines schwarzen Tiergiganten.”
— S. 1452

 

In Autor Tags Blitz-Bildung, Roman, Buch
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