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Martin Thomas Pesl – Autor, Übersetzer, Sprecher und Lektor

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SPINNEN, BIS DER HITLER KOMMT – Rezension zu Dorothea Zemanns „Das Rapportbuch“ im bellelit 2

July 7, 2015 Martin Pesl
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© Edition Atelier

Spinnen, bis der Hitler kommt

Über „Das Rapportbuch“ von Dorothea Zemann

Die längst Genesene, die weiter simuliert, damit der Oberarzt sie verhätschelt. Der hypochondrische Schauspieler, der am liebsten in den Mutterleib zurückkriechen möchte. Die klatschenden und tratschenden Schwestern und die sich als Götter in Weiß pudelwohl fühlenden Ärzte. Diese liebevoll überspitzten Krankenhausgestalten, die uns heute in mehr oder weniger ernst gemeinten Arztserien unterhalten, hat Dorothea Zemann in ihrem 1959 erschienen Roman „Das Rapportbuch“ in literarischer Form verknüpft. Unbarmherzig ist ihr Blick auf die unverbesserlichen Egozentriker, bissig beschreibt sie ihr meist selbstverschuldetes Unglück.

Dass die Autorin (1909 – 1993) auf eigene Erfahrungen aus der Arbeit als Krankenschwester in der Psychiatrie zurückgreifen konnte, trägt sicher auch zur Lebhaftigkeit ihrer miteinander versponnenen Spinnergeschichten bei. Bevor man diese jedoch schlicht als gelungenes Vorzeit-„Scrubs“ abtun kann, schleicht sich die Zeit ins Bewusstsein. „Die Medizinmänner können dem jungen Menschen die Begegnung mit der eigenen Zeit und ihren Gespenstern nicht ersparen.“ Denn der ganze Irrsinn spielt sich in Wien ab, in den Monaten vor dem Anschluss an Hitler-Deutschland im März 1938. Und ist dadurch plötzlich gar nicht mehr so lustig. Nun wird jede Psychose zum Symptom der Verdrängung, jede sorgsam bereitgehaltene Giftspritze eine verständliche Waffe gegen den hereinbrechenden Untergang.

Aber Dorothea Zemann wäre des dämonischen Doderers, ihres damaligen Liebhabers, nicht würdig, wären ihre Giftspritzen nicht auch sprachlicher Natur und somit wahnsinnig witzig. Die Neuauflage des galligen „Rapportbuchs“ im Zeitalter der Neurosen einerseits und des großen Kriegsgedenkens andererseits schafft eine passende Therapie für Nostalgiker.

 Auch zu lesen im Textlicht-Verlagsblog ...

In Autor Tags Buch, Rezension

EINE STORY, DIE SIE NICHT ABLEHNEN KÖNNEN – Text im WIENER 402

July 6, 2015 Martin Pesl
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Marlon Brando, nicht abzulehnen. © moviepilot.de

Eine Story, die Sie nicht ablehnen können

Welche Italiener Mann sich zum Vorbild nehmen sollte – und warum man trotz aller Italophilie dabei nicht auf den Dude vergessen darf

Italiener sehen immer gut aus, auch wenn sie gewalttätige Killer, Kämpfer oder KO-Schläger sind. Wie machen sie das? Aufschluss geben legendäre Filme aus den Sechziger- und Siebzigerjahren, aber auch von davor und danach. Filmhelden mit italienischem Blut sind beliebte Zitateschleudern, nach denen wir, ohne es zu merken, unsere Coolnessansprüche ausrichten. Ein paar unvergessliche Typen zum Nachmachen.

***

CORLEONE-STYLE

Gefürchtet und einfach cool

„Ich werde ihm ein Angebot machen, das er nicht ablehnen kann.“ Um diesen legendären Satz sagen zu können (und dabei ernst genommen zu werden), braucht es eine gehörige Portion Autorität. Marlon Brandos Don Vito Corleone (nur etwas weniger kultig: Robert De Niro in Teil II) und sein Sohn Michael (Al Pacino) haben das Bild des mafiösen Überdrüberoberhaupts geprägt. Die Familie geht über alles, jede einzelne Regung im Gesicht ist kontrolliert, meist ist die Mimik gänzlich eingefroren, die Mundwinkel sind nach unten gezogen. Erlauben Sie sich ja keine Farbe in der Kleidung, aber sich die Anzüge maßschneidern zu lassen wäre eine gute Idee – man will sich ja keine Blöße geben.

Und dann dürfen Sie immer wieder mal mit dem Handrücken vom Kehlkopf bis zum Kinn entlangstreichen, um auszudrücken: Ich weiß es nicht, es interessiert mich nicht, und falls mir die Hand ausrutscht und nach vorne flutscht, habe ich mir damit eine der kränkendsten Gesten italienischen Geistes geleistet. „Stronzo!“ Aber das ist schon zu viel Emotion. Lieber lasse ich dich in aller Eleganz umbringen.

So gefürchtet und grausam die italienische Cosa Nostra ist – noch heute in Italien selbst (speziell Sizilien) und in New York City –, so sehr haben wir sie durch Francis Ford Coppolas Filme lieben gelernt. Der Godfather in uns möchte herrschen, aber ohne großen Aufwand. Er möchte geliebt und gefürchtet werden und dabei makellos aussehen. Er ist einfach cool.

***

ROCKY BALBOA

Der italienische Hengst

„Rocky“, also steinig ist auch der Weg, den dieser Boxer bis zum Triumph hinter sich bringen muss. „The Italian Stallion“ nennen sie ihn wegen seiner Vorfahren, und er ist eine echte Kämpfernatur. Will man es als Mann lieber ohne Corleone, ist auch Rocky ein gutes Vorbild. Also erst einmal ein bisschen trainieren, dann noch ein bisschen mehr trainieren. Dann so aussehen wie Sylvester Stallone in den Siebzigern (und sich passende Kleidung zulegen – vielleicht ein rotes Sakko, vielleicht auch lieber nicht). Dann sich nicht einschüchtern lassen von großen Namen und überschätzter Professionalität. Die Verhältnisse, in die man hineingeboren wurde, hinter sich lassen, jede Chance ergreifen und das Beste daraus machen. Denn: „Keiner kann so hart zuschlagen wie das Leben, was zählt, ist nur, wie viele Schläge man einstecken kann und trotzdem weitermacht.“

***

DIE BESTEN AUS DEM WESTERN

Bud Spencer und Terence Hill

Wer auch außerhalb des Rings die Fäuste gerne parat hat, ist im Italo-Western der Sechziger und Siebziger am besten aufgehoben. „Vier Fäuste für ein Halleluja“, der Titel sagt schon einiges über die Temperatur aus, die hier herrscht. Man suche sich also einen zweiten Italiener mit Sportvergangenheit – ja, Bud Spencer und Terence Hill sind eigentlich die Schwimmer Carlo Pedersoli und Mario Girotti – und werde beste Freunde, sodass man einander die Sätze beendet, aber eigentlich generell nicht so viel reden muss. Anschließend lege man sich ein paar Kilos zu (per Muskeltraining, aber auch per Spaghetti) und begebe sich in ein paar lustige, harmlose Prügeleien – nach dem Motto: Es geht auch ohne Waffen; wozu ein Colt, wenn die Fäuste Kult sind? Wichtig dabei: den Humor nicht vergessen! Wozu hat man schließlich Freunde?

***

MARCELLO

La dolce Vita

Wer beneidet heute noch Journalisten und Fotografen? Menschen, die sich an Marcello im Fellini-Film „Das süße Leben“ erinnern. Mastroianni der Name des Schauspielers, Rubini jener der Hauptfigur. Natürlich im Anzug, trotz größter Hitze Roms, aber ohne Schweißtropfen – das ausschweifende Leben der Stars dokumentierend, aber auch miterlebend, draußen und drinnen gleichzeitig. Von schönen Frauen benetzt (Anita Ekberg im Trevi-Brunnen) und selbst in seiner Verletzlichkeit und seinem Überdruss noch erhaben wirkt dieser Marcello in einem melancholischen Film, den man nicht vergisst. Und mit dem noch eine stiltechnisch bittere Erkenntnis verbunden ist: So schade, dass man im echten Leben nicht schwarz-weiß sein kann. Das würde vielen von uns viel besser stehen.

***

DER DUDE

Unser aller wahrer Held, auch wenn er wirklich kein Italiener ist

„Ich bin nicht Mister Lebowski“, sagt Jeffrey Lebowski. „Du bist Mister Lebowski. Ich bin der Dude.“ An diesem Mann ist wirklich nichts Italienisches – und das ist wahrlich befreiend! Der Taugenichts aus Kalifornien lebt für seine Bowlingleidenschaft und lässt sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Die Wohnung so versifft wie die Kleidung, die Karriereaussichten so trüb wie der White Russian, den er gerne trinkt. Einen wie den Dude hat es vorher nicht gegeben. Einen, der nicht weiß, welcher Wochentag ist. Einen, nach dem kein Hahn kräht und der nur zur Hauptfigur wird, weil zufällig ein einflussreicher Reicher den gleichen Nachnamen hat. Jeff Bridges und die Coen-Brüder haben den Antihelden der Antihelden erschaffen, der es trotzdem schafft, dass wir Männer manchmal so sein wollen wie er. Weil wir uns vorstellen, wie traumhaft es wäre, würden die Frauen auf einen Dude abfahren. 

In Autor Tags Magazin, Film

HORCYNUS ORCA – Blitz-Bildung im WIENER 402

June 18, 2015 Martin Pesl
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© S. Fischer

Stefano D'Arrigo

Horcynus Orca

Aus dem Italienischen von Moshe Kahn

S. Fischer Verlag, € 58,00

ISBN: 978-3-10-015337-1

Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal: der neue Killerwal unter den Wälzern – ein mythenumranktes Sprachkunstwerk aus Sizilien 

“Sie ruderte für hundert, sie durchharkte das tote Gewässer bündelweise, zerdrückte und zermalmte es, um darin ihre Flucht zu graben, im Flug legte sie eine vielleicht zweihundert Meter lange Meeresstrecke zurück, und am Ende machte sie eine weit ausholende Kehre, um die Richtung zu ändern: Bei dieser derart risikoreichen Vorgehensweise orientierte sie sich mit einer so staunenerregenden Sicherheit, als würde ein unsichtbarer Vollmond am Himmel einzig für sie glänzen.”

„Damn lucky Germans!!“ Das schreibt ein neidischer Amerikaner auf der Bücherplattform Goodreads über „Horcynus Orca“. Denn obwohl Stefano D’Arrigos 1454-Seiten-Opus schon seit 40 Jahren als großer Klassiker der Weltliteratur gilt, liegt es bisher erst in einer einzigen Übersetzung vor: ins Deutsche. Und das auch erst seit heuer. Alle außer dem engagierten Moshe Kahn und seinem Herausgeber Egon Ammann hielten das Werk bisher für unlesbar und unübersetzbar. Verständlich, enthält es doch über 2000 Wortneuschöpfungen und ist in einem Gemisch aus Hochitalienisch und diversen sizilianischen Dialekten verfasst, das einen gleichzeitig einlullt und ängstigt, so wie die Wellen der unruhigen See. Na, viel Erfolg.

Aber Moshe Kahn hat es geschafft und dafür gleich ehrenwerte Preise eingestrichen. Acht Jahre hat er gebraucht, immerhin nur halb so lang wie der Autor für die „Überarbeitung“ seiner ursprünglich 100-seitigen Geschichte, in deren Verlauf er über 1000 Seiten hinzufügte. „Ulysses“ trifft hier „Moby Dick“ und wieder Ulysses, sprich: Odysseus.

Ein solcher ewiger Heimkehrer (obwohl er eigentlich netto nur acht Tage braucht) ist D’Arrigos Hauptfigur Moses ’Ndrja Cambria, Soldat aus Sizilien, der während des Zweiten Weltkriegs seine Marineeinheit verlässt und über die Meerenge zwischen Skylla und Charybdis nach Hause in sein Heimatdorf möchte, wo sein Vater und seine Verlobte auf ihn warten. Dabei begegnet er einer Reihe mythologisch angehauchter Gestalten: etwa der verführerischen Bootsbesitzerin Ceccina Circé und einem Malteser, der Ruderer für eine Regatta rekrutieren möchte. Und vor allem: unzähligen Fischen und Delfinen, genannt Feren („die Wilden“), und einem gigantischen Meereskoloss: dem Orcinus Orca oder Orcaferon oder Tiergiganten. Ihn als Killerwal oder Schwertwal zu beschreiben, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Dieses Monstrum, das das letzte Drittel des Romans regiert, ist größer als das Meer, größer als das Leben, sodass nur ein Ozean an Worten ihm beikommt: ein maritimer Superlativ wie dieses ganze Buch – org, Orca, „Horcynus Orca“.


ARKALAMEKK UND CO.
DIE SCHÖNSTEN WORTKREATIONEN VON D’ARRIGO/KAHN

Erohräugen
Seinem Autor zu Ehren schöpft Übersetzer Moshe Kahn Wörter, dass einem Hören und Sehen vergeht. Die, bei denen es ums Hören und Sehen geht, sind dabei besonders hübsch. So stellt er immer wieder das Hörengesagte dem Mitdenaugengesehenen gegenüber, und aus „oreocchiare“ werden das „Erohräugen“ und in weiterer Folge die „Ohraugen“.

Pomponade
Was wie buntes Gel in den Haaren klingt, macht sich auch als Ausdruck für Firlefanz und Affentheater ganz gut. D’Arrigos ursprüngliche Wortschöpfung lautet „pomponella“. Das französische Wort für Quaste, „pompon“ steckt auch drinnen.

Fere
Heftige Diskussionen entbrennen zwischen den Matrosen, ob die flinken Fischwesen, die sie umströmen, nun einfach schnöde Delfine oder zauberhafte Feren sind. Auf Sizilianisch sind Delfine „feruni“, aber auch der lateinische Wortstamm für „wild, ungezähmt“ ist hier zu finden. Also: Eine Fere ist ein Delfin, aber eigentlich auch nicht. Denn der Delfin bleibt in den Köpfen lieb und lustig, und der Fere komm besser nicht in die Quere.

Chinesischesdingsda
Hierbei handelt es sich um das männliche Genital. „Dingsda“ ist klar (und passt auch zum weiblichen Gegenstück, dem „Dingding“ oder „Glöckchen“, mit dem die kecke Ceccina Circé sogar die wilden Feren zähmt), warum es chinesisch ist, kommt einem ohne Italienischkenntnisse jedoch etwas spanisch vor.

Arkalamekk
Was für ein wundervolles Wort! Es bedeutet etwas Seltsames, Faszinierendes, Köstliches, Doppelbödiges, Dunkles. In dem Wort verbindet sich Mekka, Glücks- und Sehnsuchtsort, mit der Arche, dem archetypischen (!) Boot aller Boote. 


WER DEN WAL HAT, HAT DIE QUAL – Zitate zum Seekrankwerden

“Ein Koloss von einem Körper, um die fünfzehn Meter lang und einige Tonnen schwer, von fetter Haut, die dampft wie erkaltende Lava und schwitzt so gemeine Düfte aus, dass man meint, alle seine Funktionen würde er mittels Ausschwitzen durch die Poren seiner Haut erledigen;(...).”
— S. 837
“Und in dieser Niederkunft der Winzlingsaale, in diesem Getropfe geheimnisvollen Lebens, das aus jeder Falte, jedem Riss, jedem Spalt und jedem Wundkrater hervorquoll, als würde alles aus der Haut hervorschwitzen, hatte der tote Orcaferon noch etwas von einem lebendigen Orcaferon, etwas Lebendiges, Ungeheuerliches, etwas, das den Tod brachte.”
— S. 1370
“Jetzt ruderten die Milchbärtigen verschwommen in dunkelster Dunkelheit, sie waren nur Schatten mehr, die ohne Arme noch Hände über den Rudern wogten, wie eine leichte, machtvolle, gewundene, nicht aufzuhaltende Kruppe eines schwarzen Tiergiganten.”
— S. 1452

 

In Autor Tags Blitz-Bildung, Roman, Buch

MUSA DAGH – Blitz-Bildung zu Werfels „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ im WIENER 401

June 7, 2015 Martin Pesl
Eindeutig im Urlaub gelesen:&nbsp;„Die vierzig Tage des Musa Dagh“&nbsp; 
 
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Eindeutig im Urlaub gelesen: „Die vierzig Tage des Musa Dagh“  © S. Fischer Verlag bzw. Martin Thomas Pesl

Franz Werfel

Die vierzig Tage des Musa Dagh

S. Fischer Verlag, € 15,40

ISBN: 978-3-596-29458-9

Der WIENER liest für Sie Klassiker der Weltliteratur. Diesmal: ein Historienthriller mit eigener bewegter Historie zum 100. Gedenktag der Armenier-Tragödie

“Nichts erleichtert im Mißgeschick das menschliche Herz so wohltätig wie der Trieb, bestimmte Personen auch für ein elementares Unheil schuldig zu sprechen und mit Vorwürfen zu überhäufen.”

Schuldfragen. Dieses Jahr sind sie in aller Munde: die Armenier in der Türkei und das, was im Zuge des Ersten Weltkriegs vor genau 100 Jahren an ihnen verübt wurde. Papst Franziskus nannte es (durchaus nicht als Erster) bei einer Gedenkveranstaltung geradeheraus „Genozid“. Prompt gab es diplomatische Verstimmungen mit der Türkei. Einer jedenfalls hätte Franziskus sofort mit vehementer Geste zugenickt: der österreichische Schriftsteller Franz Werfel. Ohne seinen historischen Thriller „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ wäre die Tragödie der Armenier sehr wahrscheinlich viel weniger bekannt.

Werfel reiste mit seiner Frau 1929 in den Orient, wo ihm die wahre Geschichte der Menschen aus Yoghonoluk zugetragen wurde. Werfel wurde von Empathie gepackt, arbeitete sich in die historischen Fakten hinein und schuf rund um diese Fakten eine Fiktion, die seitdem ‒ 1933 kam der Roman heraus ‒ Scharen von Lesern knapp 1000 Seiten hindurch packt. Besonders dankbar waren die Armenier. Sie konnten ihr Glück kaum fassen, dass Werfel ihnen ungefragt ein so eindrückliches geistiges Denkmal setzte, und setzten ihm ihrerseits ein physisches, das heute im Wiener Schillerpark steht.

Yoghonoluk war ein „gallisches Dorf“ (in Wahrheit: ein armenisches) in der Südtürkei, dessen Gemeinschaft vom geplanten Vernichtungsfeldzug erfuhr und sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf dem Berg Musa Dağı verschanzte. Dort planten sie einerseits die Verteidigung gegen die Türken und versuchten andererseits, ein „normales“ Leben mit Unterricht und Gebet aufrechtzuerhalten. 4-5000 waren anfangs dabei, und Werfels kraftvolle Worte geben so manchem plastische Gestalt. Allen voran steht Gabriel Bagradian, nicht nur dank seines sagenhaft klingenden Namens eine veritable Heldenfigur. Am Ende der 40 Tage, als französische Kriegsschiffe die türkischen Belagerer zurücktreiben, die Schlacht also gewonnen ist, ist er so erschöpft, dass er den rettenden Schiffen fernbleibt und am Grab des Sohnes an einer letzten Kugel stirbt.

Wahrhaft Blut, Schweiß und Tränen werden hier vergossen, und der Heldendichter bezieht klar politisch Stellung: „Den Jungtürken aber gelang es, das Werk von Jahrhunderten in einem Atemzug zu zerstören. Sie taten das, was sie gerade als Beherrscher eines Völkerstaates niemals hätten tun dürfen! Durch ihren eigenen Nationalwahn erweckten sie den der unterworfenen Völker.“ Viel klarer hätte es der Papst auch nicht ausdrücken können.


HELD DER ARMENIER
Stationen im Werdegang eines Romans

NS-Verbot 1934
Werfels Roman kam quasi zeitgleich mit den Nazis. In NS-Deutschland wurde er schon drei Monate nach seinem Erscheinen auf Basis einer Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutze des Deutschen Volkes wegen „Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung“ verboten, die Akademie der Künste verbannte ihn. Nichtsdestotrotz, so schrieb Marcel Reich-Ranicki einmal, waren die „vierzig Tage“ wohl das meistgelesene Buch im Warschauer Ghetto.

Beststeller in den USA
Nach dem „Anschluss“ 1938 kehrten Werfel und seine Frau Alma Mahler nicht mehr nach Österreich zurück, sondern gingen in die USA. 1941 wurde Werfel gar amerikanischer Staatsbürger. Vor allem sein Roman über Bernadette, der die Jungfrau Maria in Lourdes erschien, aber auch die „vierzig Tage“ verkauften sich auf Englisch sensationell. Schon bei einer früheren USA-Reise hatte die armenische Community in New York den Schriftsteller hochleben lassen.  

Geplatzte Verfilmungen
Niemand geringerer als Clark Gable wurde für die Rolle des Gabriel Bagradian in der Hollywood-Verfilmung gecastet. Die türkische Botschaft jedoch übte so starken Druck aus, dass der Film nie gemacht wurde. Angeblich ereilte Mel Gibson im neuen Jahrtausend ein ähnliches Schicksal: Ein E-Mail-Shitstorm schreckte ihn vom Thema ab.

Werfeldenkmal
Der armenische Staat beauftragte im Jahr 2000 den Landsmann Ohan Petrosjan mit der Schaffung einer Büste, die Franz Werfel zeigt. Aufgestellt wurde sie unweit ehrenwerter Dichterkollegen wie Friedrich Schiller und Nikolaus Lenau. „In Dankbarkeit. Das armenische Volk“, ist darunter in Granit gemeißelt. 


„ARMENIER SEIN IST EINE UNMÖGLICHKEIT“ – Aus der bestgeschriebenen Anklageschrift der Welt

“Die Nacht des Musa Dagh saugte schnell die Julidämmerung auf. Der waagrechte Halbmond stieß sich von den Gipfelschroffen des Amanus im Osten ab und fuhr frei in den Raum hinaus.”
— S. 256
“Wenn ich nicht an das Böse glaube, so gibt es kein Böses in der Welt ... Wenn ich nicht an den Tod glaube, so gibt es keinen Tod in der Welt ... Mögen sie mich ermorden, ich werde es nicht einmal merken ... Wer diesen Punkt erreicht, der baut die Welt aus dem Geiste neu!”
— S. 546
“In jedem Mißerfolg aber liegt ein Element der Gnade, weil er die ganze Lächerlichkeit menschlicher Wert-Anmaßungen grinsend entlarvt.”
— S. 584
“Dies war aber nicht nur das gewöhnliche Kopfwackeln, das ihn seit seiner Krankheit häufig anfiel. Es bedeutete das fassungslose Nicht-Begreifen einer Welt, in der zum Geist verpflichtete Wesen, anstatt in die Wonnen der Definitionen, Formeln und Verse einzudringen, sich mit fanatischem Gurgelabschneiden befassen.”
— S. 749
“Armenier sein ist eine Unmöglichkeit. Sehr wahr! Die Unmöglichkeiten sind aber für Gabriel Bagradian abgetan. Mit unbeschreiblicher Sicherheit erfüllt ihn das Einzig-Mögliche. Er hat das Schicksal seines Blutes geteilt. Er hat den Kampf seines Heimatvolkes geführt.”
— S. 973
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In Autor Tags Blitz-Bildung, Buch, Roman
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