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Martin Thomas Pesl – Autor, Übersetzer, Sprecher und Lektor

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DER HUNDERTJÄHRIGE, DER DURCHS FENSTER STIEG UND NICHT MEHR GEHEN WOLLTE – Buchrezension zu Elena Messners „Das lange Echo“ im bellelit 2014

November 13, 2014 Martin Pesl
© Edition Atelier

© Edition Atelier

Der Hundertjährige, der durchs Fenster stieg und nicht mehr gehen wollte

Über eine gesamtgesellschaftliche Sinnsuche des vergangenen Gedenkjahres zum 1. Weltkrieg in Romanform

Jetzt ist es auch schon wieder vorbei, das große Gedenkjahr 2014. Keine Institution kam daran vorbei, den großen Krieg zu thematisieren, wenn sie nur in irgendeiner Form ein Programm zu gestalten hatte: ein informatives, ein kulturelles, ein unterhaltendes. Es nicht zu tun, ging nicht, gleichzeitig musste man sich dessen bewusst sein, dass alle anderen es auch tun werden, und sich kreativ von ihnen abheben. So manche Kuratoren, Verlegerinnen, Dramaturgen und Intendantinnen werden den Ersten Weltkrieg verflucht haben, und das nicht nur, weil er halt schrecklich war.

Auch die Edition Atelier hat ein Buch zum Thema herausgebracht, klar. Aber Das lange Echo von Elena Messner ist ein ganz besonderer Beitrag, weil es das Metabuch zum Gedenkjahr ist. Es ist das prophetische Prequel, die vorgeschickte Erinnerung an die Erinnerung. Es behandelt den Krieg, vor allem aber die Behandlung des Krieges im überspannten wissenschaftlichen Diskurs anno 2014. Erschienen ist es im Frühjahr, geschrieben wurde es naturgemäß noch bevor das große Jahr eingeläutet wurde. Und wie war es jetzt wirklich?, haben wir Elena Messner gefragt. »Museen, politische Gruppen, Verlage, Theater und Medien haben ihren politischen Positionen entsprechend agiert, insofern gab es da keine großen Überraschungen«, resümiert sie, die mittlerweile in Marseille lebt. »Das Österreichische Kulturforum und die österreichische Botschaft in Belgrad haben Vorträge dazu organisiert, welche Schuld Habsburg am Ausbruch des Ersten Weltkriegs hatte, die Kriegstreiberei im Rahmen der Julikrise 1914 von damaligen Militärs und Politikern wurden thematisiert. Pa­rallel dazu wurden aber auf ›inoffizieller‹ Ebene in Medien oder von einzelnen österreichischen Verlagen mit entsprechender Ausrichtung ganz entgegengesetzte Interpretationen der Ereignisse geliefert, die entlastende Funktion hatten. ›Sinn‹ ist ohnehin etwas, das politisch und kulturell mitkonstruiert wird, und insofern, wenn ich polemisch sein darf, dienen solche Gedenkjahre der gesamtgesellschaftlichen Sinnsuche.«

Die 1983 in Klagenfurt geborene Elena Messner hat in die Vorbereitungen zu dem einen oder anderen Gedenkprojekt hineingeschnuppert und dabei gerade in Österreich eher eine Verteidigungshaltung als ein reflektiertes Gedenken vorgefunden. Das inspirierte die Literaturwissenschaftlerin, Übersetzerin und Dozentin dazu, für ihren Roman einen Wiener Weltkriegsgedenkkongress zu erfinden, wie er bestimmt genau so irgendwann im Jahr 2014 stattgefunden hat, und an dem sich zwei Historikerinnen über die Interpretation eines Vorfalls aus dem Jahr 1916 streiten. Dabei gelingt es der Autorin, auf nicht einmal 200 Seiten sowohl besagten Vorfall aus dem Kriegsgeschehen als auch die darüber geführte – und über einem Bier beim Stadtheurigen fortgesetzte – Debatte auf den Punkt zu bringen und zu verdichten.

Eine als Roman getarnte trockene historische Abhandlung ist das schon deshalb nicht, weil sowohl die alte, als auch die neue Geschichte zwar gründlichem Quellenstudium entwachsen, aber rein fiktiv sind. Vielmehr zeigt Messners Streitgespräch, von wie vielen Schichten die Beschäftigung mit der Vergangenheit überlagert wird, und wenn es nur eine gar gegenwärtige persönliche Antipathie ist, kombiniert mit dem Wunsch, einen stillen Zuhörer zu beeindrucken. Dass sich die Verfasserin dabei ungeniert auf die Seite der jungen Assistentin wirft, die die rückwärtsgewandte Direktorin des Heeresgeschichtlichen Museums angreift, stört dabei nicht. Im Gegenteil, es erleichtert den Zugang zur anderen Geschichte: zu jener des slawischstämmigen Soldaten Milan Nemec, der auf der Seite der Habsburger kämpfen musste und dabei angesichts skrupelloser Gräuel, wie sie in militärhistorischen Kontexten beim Erinnern gerne vergessen werden, seines Patriotismus verlustig ging. Und ganz am Rande reüssiert der Roman noch auf einer anderen, durchaus überraschenden Nebenfront: »Jemand hat mir gesagt, ich hätte die schönste Liebesgeschichte geschrieben, die er je gelesen hat«, berichtet Elena Messner.

Da die Autorin in Marseille lebt und unterrichtet – übrigens in Vorbereitung eines neuen Romans über diese Stadt –, hat sie 2014 relativ wenig österreichischen Gedenkprunk besucht. Im Heeresgeschichtlichen Museum war sie aber natürlich, und obwohl sie betont, dass das gleichnamige Haus in ihrem Buch nicht mit dem realen Museum identisch sei – »auch wenn weder Figuren noch Räume und Denkweisen völlig frei erfunden sind« –, fühlte sie sich in ihren sarkastischen Prophezeiungen bestätigt. »In diesem Jahr wurden mehrere Millionen für einen Umbau im Museum ausgegeben. Die Fetischisierung der Militärobjekte wurde innenarchitektonisch weitergetrieben, indem man versucht, den Blick auf die Objekte zu lenken, die wie Reliquien ausgestellt sind. Dieses Konzept ist eine aussagekräftige Antwort auf die letzten Zeilen meines Romans.«

Der altbekannte Slogan des Hauses, »Kriege gehören ins Museum«, lasse zwar auf eine reflektierte Betrachtung österreichischer Militär- und Gewaltgeschichte hoffen, doch sei, so beobachtet die Autorin, das Heeresgeschichtliche Museum mit der neuen Ausstellung »einen armee- und habsburgaffinen Weg« gegangen. »Ausgeblendet werden weiterhin Kriegsverbrechen der Habsburgischen Truppen, die komplizierten Ursachen des Krieges, das Grauen in den Schlachten, das zivile Leben im Krieg, das tägliche Leiden der Soldaten oder die komplizierte Frage des Zusammenhangs von Politik und Gewalt«, kritisiert sie. »Dabei sind Militärmuseen nicht zwangsweise dazu verdammt, armeeaffine Ausstellungen zu produzieren, die unkritisch mit der Militärgeschichte ihres Landes umgehen. Das vergleichbare Museum der Bundeswehr in Dresden hat etwa einen ganz anderen Weg eingeschlagen.«

Und das Thema Krieg geht weiter. »Nächstes Jahr kann man mit vier Anlässen gleich weitermachen: 200 Jahre Wiener Kongress, 70 Jahre Kriegsende, 60 Jahre Staatsvertrag, 20 Jahre EU-Beitritt«, macht Messner nicht gerade Lust auf die nahe Zukunft. »Nicht jedes ›Jubiläum‹ wird von einer breiten Bevölkerungsschicht und vielen Medien gleichermaßen ›angenommen‹ – es bleibt eine Frage der gesamtgesellschaftlichen Ausverhandlung, ob und wie stark bestimmte historische Ereignisse auf Interesse stoßen.« Und was den Ersten Weltkrieg betrifft: Noch bis 2018 wird man sich künstlich und künstlerisch exakt hundert Jahre später an den Krieg und hoffentlich auch an seine Gräuel erinnern; dieser Krieg ist der Hundertjährige, der durchs Fenster hereinkletterte und nicht aufhörte, Faxen zu machen. Gequält wird man sich über die Grenze zwischen Erinnern, Gedenken und Zelebrieren manövrieren. Zwischendurch darf man getrost den einen oder anderen Fernsehbericht auslassen und in Elena Messners fiktives Heute eintauchen, das nicht weniger real ist, aber besser geschrieben.


Elena Messner
Das lange Echo
Roman
192 Seiten | 18,95 Euro
E-Book: 12,99 Euro

 

In Autor Tags Rezension, Buch, Roman

SUPERPAPAS – Porträt der Superamas im WIENER 395

October 25, 2014 Martin Pesl
„SuperamaX“ © Superamas

„SuperamaX“ © Superamas

Superpapas

Österreichs schrillste Klischeevernichtungstruppe Superamas ist in die Jahre gekommen und feiert 15 Jahre mit dem Einstieg ins Pornogeschäft

Sie sind Männer, was sie immer schon irgendwie problematisch fanden. Denn sie sind ja – wie alle – dagegen, dass Männer die Welt regieren. Ist es Zufall, dass die Superamas sich vor 15 Jahren als reiner Würstelstand formiert haben? „Es hat sich so ergeben“, sagt Frontman Philippe. „Aber wahrscheinlich aus gutem Grund.“ Seit 15 Jahren machen sie schrille, unterhaltsame, aber eben auch bittersüßlich böse Performance-Projekte in Österreich, Frankreich und Belgien. In Bühnenstücken und kleinen Filmen nehmen sie die Berlusconis dieser Welt aufs Korn und verdammen Kapitalismus und Machismo – indem sie sie darstellen. „Wir können nicht nur die Kapitalisten kritisieren. Wir müssen genau so schuldig sein wie sie“, sagt Philippe (die Nachnamen der Mitglieder kennt zwar jeder, aber sie werden in Medieninteraktionen grundsätzlich nicht erwähnt).

„Auch in unserer Jubiläumsperformance geht es darum, dass wir fünf Männer sind, die immer älter werden, aber eigentlich gerne Feministen sein wollen“, erklärt er. „Daher werden Superamas hier zu ,SuperamaX‘, einem total erfolgreichen Start-up-Unternehmen. Wir machen Gewinne mit allen möglichen Ideen. Unter anderem indem wir mit Cindy Gallops Porno-Webseite makelovenotporn.com zusammenarbeiten. Dort gibt es ethisch vertretbaren Porno.“

Was immer das genau heißt, das Fazit der Projektbeschreibung lautet immer: „Es ist eine Komödie“. Und obgleich eine solche Genre-Zuweisung viel zu bieder für die flippigen Superamas ist, wird doch klar, was das heißt: Tempo, Reizüberflutung und heitere Grundstimmung, die jeden Moment kippen kann, wenn der Zuschauer realisiert, was für furchtbare Dinge hinter den Klischees stecken, die auf der Bühne voller Inbrunst reproduziert werden. Und das gilt besonders auch für Geschlechterklischees. Was heißt das, wenn männliche Tänzer als Teil einer linksliberalen Kunstwelt jugendlich auf und ab hüpfen, als wären sie nicht mittlerweile auch schon über 40? „Wir hatten von Anfang an sehr viel Ambiguität auf der Bühne“, meint Philippe. „Wenn du etwa als Mann mit Kindern unterwegs bist, lächeln die Mädels dich an, weil sie denken, du bist treu. Das ist doch absurd!“

Als in Österreich basiertes Kollektiv, obwohl ohne gebürtige Österreicher, sind Superamas ein Paradebeispiel für die internationale Vernetzung der Performance-Welt. Philippe selbst kam lange vor diesen 15 Jahren der Liebe wegen nach Wien und blieb wegen der guten Kontakte zum ImPulsTanz-Festival und anderen. Mit den anderen, die in Belgien oder Dänemark sitzen, kommuniziert er außerhalb der weit verstreuten Probenphasen über Skype. „Ohne das Internet gäbe es Superamas nicht mehr“, gesteht Philippe. „Die Zeiten haben sich geändert.“ Und auch darum geht es in der Überdrüberjubiläumsfeministenunternehmerkomödie „SuperamaX“, die am 23. 10. im Wiener Tanzquartier Premiere hatte. Im brut inszeniert Philippe am 17. Dezember dann noch ein Date mit der belgischen Filmemacherin Miet Warlop.


Profis mit Profit – Wer oder was sind Superamas?

Hybrid. Mit der Hybrid-Performance „Building“ starteten die Superamas 1999 ihre Karriere. Auf ein Genre ließen sie sich in keinem ihrer 15 Jahre festlegen. Tänzer kämpfen gegen Videoprojektionen an, Sketch-Formate und kleine YouTube-Videos (etwa „Berlusconi“) wechseln sich mit dem ab, was wir als Theater kennen. Superamas sind oft im brut, bei der Sommerszene Salzburg oder im Tanzquartier zu Gast; und da die fünf männlichen Mitglieder, deren Namen die Öffentlichkeit nicht kennen soll, aus Frankreich und Belgien stammen, touren sie auch dort. Mit „SuperamaX“ – so die ironische Beschreibung des neuen Projekts – wollen die Performer ab 23.10. nun endlich Profite einfahren.

www.superamas.com

www.tqw.at

In Autor Tags Theater, Tanzquartier, Porträt, Interview, WIENER

„MAN MUSS DOCH!“ – Porträt von Árpád Schilling im Magazin herbst

October 17, 2014 Martin Pesl
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Árpád Schilling aus der Nähe betrachtet. © Máté Tóth Ridovics

„Man muss doch!“

Für das Magazin herbst – Theorie zur Praxis, das jährlich das Festival steirischer herbst in Graz und Umgebung begleitet, traf ich den ungarischen Kultregisseur Árpád Schilling. Seiner Company Krétakör, die am 17. und 18. Oktober in Bad Gleichenberg auftritt, geht es an den Kragen, während Schilling selbst als Opernregisseur durch Deutschland zieht

Vor knapp zehn Jahren war Árpád Schillings größtes Problem eine bürokratische Lächerlichkeit. Für seine Inszenierung Hamlet3 am Wiener Burgtheater wollte er, dass die Schauspieler in Privatkleidung auftreten. Ein radikaler Akt der Fokussierung: Nur drei Schauspieler, eine Art Boxarena als leere Bühne, und nicht einmal Kostümentscheidungen sollten der Verdichtung auf den Inhalt im Wege stehen. Die Burg war damit überfordert: Wie, kein Kostüm? Das geht doch nicht! Aus versicherungstechnischen Gründen mussten dann die Schauspieler dem Theater ihr Gewand verkaufen und trugen so Abend für Abend gleichzeitig ein Kostüm und kein Kostüm.

Dieses stadttheatrale First-World-Problem war 2005, und Schilling stand am Beginn einer steilen Regiekarriere im deutschsprachigen Raum. Die legt er auch nach wie vor hin; in Ungarn jedoch wurde seine legendäre Truppe Krétakör von der Regierung auf eine schwarze Liste gesetzt. Weil der norwegische Kohäsionsfonds die Institution ebenso wie eine Reihe anderer regierungsunabhängiger Organisationen der ungarischen Zivilgesellschaft förderte, möchte das Kabinett Viktor Orbán nun ermitteln, ob diese Gelder den NGOs dazu dienen, sich landesfeindlich zu verhalten. Sprich: die nationalkonservative Partei Fidesz zu torpedieren, die vom nicht-ungarischen Europa aus skeptisch bis ablehnend beäugt wird, weil sie mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit allzu bequem regiert.

Da hilft es freilich nicht, dass „die Partei“ auch titelgebend für Krétakörs aktuelle Theaterproduktion ist und darin kritisch beäugt wird. Die Partei, das klingt nach Apparat, nach Autokratie, das klingt vor allem nach Kommunismus, nach Kaltem Krieg. Etwas, das Ungarn lange Jahre hatte und jetzt wieder hat. Oder immer noch. Nur ohne das mit dem Kommunismus. Die Partei weiß genau, was sie tut. Sie weiß, wie sie – einmal demokratisch legitimiert – an der Macht bleibt. Und sie weiß, wie sie ihre Kritiker aushungert.

Dass es sich in diesem Fall bei den Betroffenen um die international bekannteste Theaterinstitution Ungarns handelt, ist aus Sicht der Regierenden sicher kein peinlicher Fehler, sondern eher ein Jetzt-erst-recht gemäß einer Logik, nach der Renommee im Ausland und Patriotismus einander widersprechen und letzterem selbstverständlich der Vorzug zu geben ist. Das Krétakör Színház, zu Deutsch Kreidekreis-Theater, hatte Schilling 1995 erst 21-jährig gegründet. Der Name bezieht sich auf den „kaukasischen Kreidekreis“ Bertolt Brechts, dessen Theorien Schilling schon immer auf mutige, direkte Weise in die Tat umzusetzen versuchte. Mit radikal auf Inhalte, Gedanken und Schauspiel reduzierten Aufführungen meist klassischer Dramen machte er rasch auch international auf sich aufmerksam, durfte in Frankreich inszenieren, wurde zu Festivals und ans Burgtheater eingeladen.

Für Ungarn, das Feld, das er eigentlich brechtisch beackern wollte, war ihm das aber nicht genug. Und so entschloss er sich zusammen mit seinem Weggefährten Márton Gulyás 2008 zu dem einzigartigen Schritt, die Radikalität von der Bühne ins Leben, in die Organisation zu verlagern. Man schloss das Theater und wandelte es, nun nur noch unter dem Namen Krétakör, in ein Produktionsbüro um, das mithilfe unterschiedlicher Medien die Gesellschaft von innen zu verändern versucht. Man ging an Schulen, vor allem auch abseits von Budapest, und veranstaltete „Gesellschaftsspiele“ auf einer Grundlage, die Menschen mit westlichen, „deutschen“ Theatergewohnheiten betreten die Stirn runzeln ließen: Didaktik. Erziehung. Den Teilnehmenden Zivilcourage und selbstständiges Denken beibringen. Bequeme Denkstrukturen aufbrechen, indem man sie ganz offen hinterfragt und auseinandernimmt. Das ist Theater, sagt Árpád Schilling. 

Wozu Szenen spielen, wenn sie nicht ein Problem aufwerfen, wie im lateinamerikanischen Straßentheater oder in Boals Theater der Unterdrückten? Wozu etwas aufführen, wenn es nichts auszuführen gibt? So hat Krétakör etwa in Workshops mit einer Reihe von Jugendlichen eine Kampagne für eine Senkung des Wahlalters entwickelt. „Theater kreiert eine Bewegung“, erklärt Schilling. „Es ärgert, provoziert, stellt unbequeme Fragen, propagiert die Freiheit schon allein, indem es sich traut, frei zu sprechen. Das moderne Theater könnte aber noch weiter gehen, indem es als mutigeres Forum provoziert, die Zuschauer besser einbindet.“

In der Tat. Das Mitmachtheater, wie es vom aufgeklärten Dramaturgen bis zum verschüchterten Theaterbesucher alle fürchten – Árpád Schilling erhebt es zum Endziel eines Prozesses. „Schon Brecht hat das ja aufgeworfen: Wir sollen nicht nur fühlen, sondern auch nachdenken. Heutzutage könnte man sagen: Wir sollen nicht nur nachdenken, sondern ganz konkret anfangen zu sprechen. Das Theater kann dazu ein Werkzeug sein, ein Forum, in dem man auch Entscheidungen trifft.“

Wie, Entscheidungen? „Ich kann mir eine Aufführung vorstellen, aus der das Publikum hinausgeht und einen Satz, einen Gedanken gefasst hat, ein Manifest auf irgendeine Frage. Natürlich ist das eine enorme Erziehungsaufgabe: Der Zuschauer schaut eine Geschichte an und soll plötzlich etwas dazu sagen. Nicht über die künstlerische Darstellung, sondern davon ausgehend soll ihm etwas einfallen. Eine Diskussion soll beginnen, die wiederum von der anderen Seite professionell und geschickt moderiert wird. Ungarn hätte das bitter nötig. Aber es ist schwer herbeizuführen, weil der Zuschauer nix sagen will und weil es kaum hervorragende Schauspieler gibt, die gleichzeitig gute Moderatoren sind, deren Profession darin besteht, auf den Zuschauer zu achten.“

Dass das Geld fehlt, um sich solche Profis heranzuzüchten, ist geradezu klar. „Die Regierung ist sowieso dagegen, kritische Stimmen auszubilden. Und die Kunst, also die Festivals, wollen vor allem Ästhetik sehen.“ Versucht hat er es, aber es geht langsam voran. „Das ist nicht wie bei diesem ungarischen Witz: ,Herrscht hier im Dorf Antisemitismus?‘ – ‚Nein, aber eine Nachfrage danach wäre schon gegeben.‘ Die Schauspieler wollen keine guten Moderatoren sein, die Zuschauer fordern keine Aufführungen, bei denen sie mitreden.“

So wird der krétakör, der weiße Kreidekreis auf schwarzem Untergrund, in dem sich die Dinge durch nüchterne, neutrale, unabhängige Urteilsfindung entscheiden sollen, unfreiwillig zum Symbol für ein frustrierendes Sich-im-Kreis-Drehen. Auch in „Die Partei“ prangt er mahnend im Bühnenzentrum. Die neueste Bühnenproduktion von Krétakör hatte kurz vor den Parlamentswahlen im Frühjahr 2014 ihre Premiere in Budapest. Da war noch nichts mit schwarzer Liste, da ging es eher noch ganz allgemein um eine Gesellschaft mitten in Europa, die der Politik desillusioniert und entnervt den Rücken gekehrt hat. „Ich wollte mir Gedanken darüber machen, wie die Parteilichkeit überhaupt zur Herausbildung einer gut funktionierenden Gesellschaft beiträgt“, sagt Árpád Schilling. „Die Mehrheit der Menschen übergibt den Parteien alle Fragen von Macht und will sich selbst nicht damit beschäftigen. Das ist nicht nur innerhalb der Politik ein Problem, sondern das ganze Leben wird parteipolitisch, etwa auf der Ebene von Lehrer-Schüler-Verhältnissen. Sogar beim Einkaufen stellt es ein Problem dar: Wer ist Kunde, wer ist Diener, wer hat welche Rechte? Die, die den Kassenschlüssel, das Schwert in der Hand haben, sind der Chef, die haben die Macht, und das ist in Ordnung so.“

Seit der Premiere von „Die Partei“ gab es zwei Wahlen in Ungarn – die Parlamentswahl und die Europawahl. Am Status quo hat sich wenig geändert, was für Krétakör aber eine Verschärfung der Lage bedeutet. Das Stück hat sich seitdem weiterentwickelt, verdichtet, dient immer mehr als aufgeschrienes „Man muss doch“ in einer geradezu absurden Situation. Denn so schizophren wie das Berufsleben von Árpád Schilling verläuft wohl kaum ein Berufsleben im europäischen Theaterkosmos – höchstens vielleicht das anderer ungarischer Regisseure, die im Ausland, vor allem im deutschsprachigen Raum, gefeiert werden und die in Budapest, durchaus vor vollen Häusern und jubelnden Menschen, den Resten der Zivilgesellschaft spielend, ausgegrenzt werden. Im deutschsprachigen Theaterbetrieb ist Schilling bestens beschäftigt; zwei Tage nach einer „Faust“-Opernpremiere in Basel begannen im Mai die Proben zu „Die Sache Makropoulos“ an der Bayerischen Staatsoper in München.

„Du bist so ein Alternativer“, kriegt er dafür zuhause zu hören. „Du bist komisch“, wurde ihm auch früher schon nachgesagt. „Warum willst du nicht an ein festes Haus? Dort ist das Geld.“ Aber mit dem Wunsch nach freier Gestaltung steht Schilling in einer bewährten Tradition vieler, die mit ihm, aber auch schon vor ihm die legendäre Budapester Hochschule für Regie abgeschlossen haben. Anstatt an die „Steintheater“, wie sie wörtlich auf Ungarisch heißen, zu gehen, widmeten sie sich lieber ihrer eigenen kleinen Organisationsstruktur. Das gilt für Béla Pintér, dessen Company in 15 Jahren 19 Repertoire-Stücke erarbeitet hat, die in Budapest über Monate ausverkauft sind und auch in Ungarn und Europa erfolgreich gastieren. Das gilt für Kornél Mundruczó, der sich als theatraler Filmemacher und filmischer Theatermann gerne außerhalb der üblichen Schauplätze bewegt. Aber auch für Viktor Bodó, der Mitglieder seiner Szputnyik Shipping Company immer wieder gerne in seine Arbeiten am Schauspielhaus Graz einbindet. Alle sind sie, wie Schilling, in den Siebzigern geboren, haben als Jugendliche noch den Sozialismus in Ungarn miterlebt und als Erwachsene dann wie selbstverständlich ihr eigenes Ding durchgezogen.

2009 waren sie dann so weit, die Systemferne in ein System zu integrieren: Eine neue Förderstruktur sah eine Garantie von zehn Prozent der für performative Kunst verfügbaren Mittel für freie Gruppen vor, die Unabhängigkeit wurde als gültiger Teil der künstlerischen Wirklichkeit anerkannt. Doch so ziemlich alles andere machte die damalige Koalition falsch, bei der Wahl 2010 wurde sie massiv abgestraft, die weit rechts stehende, oftmals offen gegen Juden und Roma wetternde Jobbik erhielt zweistellige Stimmenanteile, und Orbáns Fidesz erlangte mit dem Versprechen, Ungarn werde nun wieder etwas wert sein in der Welt, eine im neuen Jahrtausend in Europa konkurrenzlose Verfassungsmehrheit. Die Verfassung wurde dann auch gleich geändert, das Mediengesetz reformiert, Ungarn auf den Kopf gestellt. Scharfe Kritik von außerhalb wurde als Einmischung und Abwertung eines wieder erstarkenden Ungarntums ausgelegt, besagte zehnprozentige Garantie wieder gestrichen und durch ein Ausschreibungssystem mit willkürlicher Entscheidung des Ministeriums ersetzt.

Unterdessen horcht das theateraffine Ausland auf, nimmt sich der ungarischen Künstler an, gibt ihnen Arbeit. Der rausgeekelte Ex-Direktor des Budapester Nationaltheaters, Róbert Alföldi, inszeniert jetzt auf Deutsch, von Eggenfelden bis Wien. „Wir betreiben mal wieder ein bisschen Landesverrat“, scherzen ungarische Kulturjournalisten, wenn sie bei einem Festival oder Kongress im Ausland über die heimische Situation berichten und sicher sein können, von der regierungsnahen Presse dafür abgekanzelt zu werden. Und plötzlich lädt niemand mehr Schilling und Konsorten an die festen Häuser ein. „Bleibt nur weg“, heißt es jetzt. „Geht doch in den Westen mit eurer dekadenten Scheiße.“

Das könnte er wahrscheinlich, aber er traut sich nicht. Noch nicht. „Ich arbeite gerade in München an der Bayerischen Staatsoper“, sagt Árpád Schilling. „Wenn man sich mit Oper beschäftigt, ist das der Gipfel einer Karriere. Und in Ungarn darf ich trotzdem nicht Teil eines sinnvollen Dialogs sein. Ich höre nur: ,Jammert nicht. Ihr hattet es vorher gut, jetzt eben nicht mehr, denn jetzt haben wir es gut.‘“

Und jetzt noch die schwarze Liste. Es wird immer schwerer für Árpád Schilling, seine nicht grundsätzliche Regierungsgegnerschaft zu erklären, nachdem die Regierung ihn zum Feind erklärt hat, einfach nur, weil er Vernunft und gesunden Menschenverstand und einen Blick über den Tellerrand predigt. Seine beste Vision für Ungarn? „Dass sie sich von innen heraus zerfleischen.“ Aber um einfach wegzuziehen, dazu ist die Bindung zu stark. „Hätte ich einen längerfristigen Job, würde ich darüber ernstlich nachdenken, im Sinne der Zukunft meiner Kinder. Wenn diese von Orbán gepachtete imperiale Macht, in der christlicher Religionsunterricht verpflichtend ist länger anhält – und ich sage nicht, dass mir die MSZP lieber wäre –, dann suche ich vielleicht wirklich das Weite.“

www.steirischerherbst.at
www.kretakor.eu

In Autor Tags Ungarn, Theater, Porträt, Kulturpolitik

DIE KARTE SEINER TRÄUME – Buchrezension von Thomas Ballhausens „In dunklen Gegenden“ für bellelit 2014

October 16, 2014 Martin Pesl
Thomas Ballhausen © Edition Atelier

Thomas Ballhausen © Edition Atelier

Die Karte seiner Träume

Thomas Ballhausens lange erwarteter neuer Erzählband „In dunklen Gegenden“ bietet ein ganz besonderes Lesevergnügen

Determinierte Strategen auf einsamen Missionen. Statusberichte aus einer Endzeit, deren Details zu trostlos scheinen, um sie auszusprechen. Namedropping, das einen die eigene Unbildung in Sachen Fantasy-Universen bedauern lässt, bei eingehender Recherche jedoch überraschend zu Sternenkon­stellationen (Aldebaran), Literaten oder wahlweise Quizshowkandidaten (Van Doren) führt. Und wer sind diese mysteriösen Eisenmänner, gegen die offenbar eine Art Krieg im Gange ist? Dass wir uns In dunklen Gegenden befinden, daran lässt selbst Thomas Ballhausen, der sonst gerne vieles erquicklich unbeantwortet lässt, keinen Zweifel.

»Ich spiele immer noch ernste Spiele«, schreibt er in einem der zehn Texte seines Erzählbandes, mit dem er sich der fantastischen Literatur in einer peniblen, analytischen Sprache annähert. Seine bedachten, fast pedantischen Formulierungen schicken die Fantasie in scheinbar fernen, vielleicht aber auch sehr nahen Realitäten los, nur um sie sofort wieder an die kurze Leine zu nehmen.

Da scheint ein Polizist eine neue Station übernommen zu haben, missbraucht seine Position jedoch dazu, in aller Gelassenheit einen Jahrmarktbären freizulassen. Eine Art Soldat verharrt in Untätigkeit vor einem Graben, und ein Chefkartograf berichtet von seiner Mission, glatt die Frage übertünchend, was ein Chefkartograf eigentlich ist. Von Zitaten aus Musik und Literatur eingeleitet, kartieren zehn Ich-Agenten (oder ist es gar ein einziger?) ihre apokalyptischen Welten oft unberührter Natur, lassen sich dabei aber nur allzu gerne von Grenzlinien und Verwaltungsapparaten ablenken.

Ist all das undurchdringlich? Wahrscheinlich. »Die Bilder wollen sich noch immer nicht einstellen, und mein Kopf schmerzt heftiger, als würde ein Teil davon einfach fehlen.« Der Satz kann durchaus auch die Leseerfahrung beschreiben, die einen ereilt, versucht man den gewieft plastischen Formulierungen dieser apokalyptischen Denker zu folgen. Man sollte dennoch nichts unversucht lassen. »Ich bin nicht geheimnisvoll, ich bin schlicht ein bisschen unleserlich«, heißt es an anderer Stelle regelrecht selbstironisch. Dem sei heftig widersprochen und die Analyse eines anderen von Ballhausens Taktikern entgegengehalten: »Die Welt ist in den letzten Jahren immer unleserlicher geworden.«


Thomas Ballhausen
In dunklen Gegenden
Erzählungen
104 Seiten | 14,95 Euro
E-Book: 9,99 Euro

In Autor Tags Buch, Rezension
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